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»Ich will wissen, wie oft Andrew Kensington und wann er das letzte Mal hier war.«

Speedy versuchte nachzudenken. Er haßte es, wenn eine Waffe auf ihn gerichtet war.

»Hast du einen Cassettenrecorder bei dir, Bulle?«

Der Bulle lächelte.

»Beruhige dich. Zeugenaussagen unter Waffengewalt gelten nicht. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, daß ich dich erschieße.«

»Okay, okay.«

Speedy spürte, daß er zu schwitzen begann. Er maß den Abstand zu seinem Pistolengurt.

»Wenn das, was ich gehört habe, richtig ist, dann ist er jetzt tot. Was kann das also schaden? Er war vorsichtig, wollte nie zu viel auf einmal haben. Er kam zweimal in der Woche und kaufte immer ein Tütchen. Feste Routine.«

»Wie lange ist es her, daß er das letzte Mal hierherkam und Cricket spielte?«

»Drei Tage, er hätte am nächsten Tag kommen sollen.«

»Hat er auch mal bei jemand anderem was gekauft?«

»Niemals. Das weiß ich genau. So etwas ist persönlich – Vertrauenssache, sozusagen. Außerdem war er Polizist und konnte es wohl kaum riskieren, sich allzusehr zu exponieren.«

»Dann hatte er also fast keinen Stoff mehr, als er hier war. Einige Tage später hatte er trotzdem noch genug für eine Überdosis, die ihn vermutlich umgebracht hätte, wenn das nicht die Leitung schon übernommen hätte. Wie paßt das für dich zusammen?«

»Er ist doch im Krankenhaus gelandet. Es war natürlich das Verlangen nach Stoff, das ihn dazu gebracht hat, abzuhauen. Wer weiß, vielleicht hatte er doch noch eine Reserve.«

Der Bulle seufzte müde.

»Du hast recht«, sagte er, steckte die Pistole in die Innentasche seiner Jacke und ergriff das Glas vor ihm. »Alles auf dieser Welt ist befleckt mit diesem Scheiß vielleicht! Warum kann nicht mal einer dazwischenfahren und einfach Klartext reden! So ist das, und nicht anders, basta, two and two are whatever it is and that's that. Das würde den Alltag für eine ganze Menge Menschen verdammt viel einfacher machen! Glaub mir!«

Speedy begann sein Hosenbein hochzuziehen, doch er änderte seine Meinung.

»Und wo sind die Spritzen geblieben?« murmelte der Bulle vor sich hin.

»Was?« fragte Speedy.

»Wir haben am Tatort keine Spritze gefunden. Vielleicht hat er die im Klo hinuntergespült. Wie du gesagt hast – ein vorsichtiger Mann. Auch noch so kurz vor seinem Tod.«

»Spendierst du mir ein Glas?« fragte Speedy und setzte sich.

»Es ist deine Leber«, antwortete der Bulle und schob ihm die Flasche über den Tisch.

15

Erik Mykland, Fallschirmspringen und ein Rokokosofa

Harry rannte durch den Nebel in den engen Gang hinein. Die Band spielte so laut, daß alles um ihn herum vibrierte. Es roch säuerlich nach Schwefel, und die Wolken hingen so tief, daß er mit seinem Kopf an ihnen entlangkratzte. Aus dem Lärm war ein Geräusch deutlich herauszuhören, ein intensives Knirschen, das auf einer freien Frequenz schwang. Es war das Knirschen von Zähnen auf Zähnen und Ketten, die über den Asphalt gezogen wurden. Ein Rudel Hunde hetzte hinter ihm her.

Der Gang wurde enger und enger. Schließlich mußte er die Arme nach vorne nehmen, um nicht zwischen den hohen roten Mauern steckenzubleiben. Er blickte nach oben. Aus den Fenstern hoch oben in der Wand schauten kleine Köpfe. Sie winkten mit blaugrünen Flaggen und sangen die ohrenbetäubende Musik mit.

»This is the lucky country, this is the lucky country, we live in the lucky country!«

Direkt hinter sich hörte Harry sabberndes Bellen. Er schrie und fiel hin. Zu seiner großen Verwunderung wurde es plötzlich ganz dunkel um ihn herum, und statt unsanft auf den Asphalt zu knallen, fiel er immer weiter. Er mußte in ein Loch im Boden getreten sein. Und entweder mußte Harry sehr langsam fallen, oder dieses Loch war wahnsinnig tief, denn er fiel immer weiter. Die Musik dort oben entfernte sich immer mehr. Nachdem sich die Augen langsam an das Dunkel gewöhnt hatten, sah er, daß sich an den Seiten des Lochs Fenster befanden, durch die er in andere Menschen hineinschauen konnte.

Mein Gott, soll ich durch die ganze Erde fallen, dachte Harry.

»Sie sind Schwede«, sagte eine Frauenstimme.

Harry schaute sich um, und dabei kamen die Musik und das Licht zurück. Er stand auf einem offenen Platz, es war Nacht und hinter ihm auf der Bühne spielte eine Band. Er selbst stand vor einem Schaufenster, genauer gesagt dem Schaufenster eines Fernsehgeschäftes, in dem ein Dutzend Fernseher mit jeweils anderen Programmen liefen.

»Feiern Sie auch den Australian Day?« fragte eine andere Stimme, eine Männerstimme, in einer bekannten Sprache.

Harry drehte sich um. Ein Pärchen stand hinter ihm und schaute ihn aufmunternd an. Er gab seinen Mundwinkeln den Befehl, das Lächeln zu erwidern, aber er konnte nur hoffen, daß sie ihm gehorchten. Eine gewisse Straffung seines Gesichtes deutete aber darauf hin, daß er die Herrschaft über gewisse Körperfunktionen noch nicht verloren hatte. Andere hatte er aufgeben müssen. Sein Unterbewußtsein hatte nämlich rebelliert, und gerade jetzt lief der Kampf um seine Sinneswahrnehmungen und sein Gehör. Sein Gehirn arbeitete auf vollen Touren, um herauszufinden, was gerade geschah. Das war aber nicht einfach, denn es wurde ununterbrochen von den merkwürdigsten, ja zum Teil absurdesten Informationen bombardiert.

»Wir sind übrigens Dänen. Ich heiße Poul, und das hier ist meine Frau Gina.«

»Warum glaubt ihr, daß ich Schwede bin?« hörte Harry sich fragen.

Das dänische Pärchen blickte sich an.

»Sie haben Selbstgespräche geführt, Mann, haben Sie das nicht gemerkt? Sie haben ferngesehen und sich gefragt, ob Alice wohl durch den ganzen Erdball stürzen würde. Und das ist sie ja, ha-ha!«

»Ach ja, das«, sagte Harry und hatte keine Ahnung, wovon sie redeten.

»Das ist nicht so wie unsere Mittsommernacht, nicht wahr? Das hier ist doch zum Lachen. Man kann hören, daß ein Feuerwerk abgebrannt wird, aber bei all dem Nebel kann man ja überhaupt nichts sehen. Wahrscheinlich haben ein paar der Raketen den Wolkenkratzer dort oben in Brand gesetzt. Ha-ha! Riechen Sie den Pulvergeruch? Es ist die Feuchtigkeit, die dazu führt, daß er so am Boden klebt. Machen Sie hier auch Urlaub?«

Harry dachte nach. Er mußte sehr gründlich nachgedacht haben, denn als er seine Antwort parat hatte, waren die Dänen verschwunden.

Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Fernsehbildschirme im Schaufenster. Brennende Hügel auf einem, Tennis auf einem anderen Bildschirm. Das waren die jährlichen Attraktionen in Melbourne: Waldbrand und Australian Open, ein weißgekleideter Teenager wurde Millionär, während ein paar Kilometer weiter noch eine Familie obdachlos wurde. Auf einem anderen Bildschirm sah er Gro Harlem Brundtland, verfolgt von norwegischen Fischerbooten und blauschwarzen Walkörpern, die durch das Meer pflügten. Und als wenn das noch nicht genug gewesen wäre, sah er auf einem vierten Bildschirm die norwegische Fußballmannschaft in einem Spiel gegen eine Mannschaft mit weißen Trikots. Es dämmerte Harry, daß er im Sydney Morning Herold etwas über ein Turnier zwischen Australien, Neuseeland und Norwegen gelesen hatte. Plötzlich kam eine Großaufnahme von Erik »Myggen« Mykland, und Harry lachte laut auf.

»Bist du auch hier, Myggen?« flüsterte er der kalten Glasscheibe zu. »Oder habe ich bloß Halluzinationen? Was hältst du von ein bißchen Acid, Myggen?«

»Spinnst Du? Ich bin doch ein Vorbild für die Jugend«, antwortete Myggen.

»Hendrix tut das. Bjørneboe tut das. Harry Hole tut das. Acid macht dich klar im Kopf, Myggen. Mehr als klar. Das hilft dir, Zusammenhänge zu sehen, die es gar nicht …« Harry lachte.

Myggen verlor ein Tackling.

»Du kannst sogar durch eine Glasscheibe mit einem Fernseher reden und eine Antwort bekommen. Kennst du Rod Stewart? Der hat mir dieses kleine Papierstückchen spendiert, und jetzt bekommt mein Hirn gleichzeitig sechs Fernsehprogramme, zwei Dänen und eine Band mit. Das Zeug sollte wirklich schon längst legalisiert sein. Was meinst du, Myggen?«