»Ich habe nicht vor zu springen«, sagte Harry. »Ich werde ganz ruhig sitzenbleiben oder mich nur ganz langsam bewegen.«
Joseph blinzelte bei all dem Licht. »Ich habe nicht an das Springen gedacht, ich dachte daran, vom Himmel zu springen. Skydiving- Fallschirmspringen.«
»Was! Bist du Fallschirmspringer?«
Joseph nickte.
Harry hielt sich die Hand über die Augen und blickte zum Himmel hoch. »Und was ist mit den Wolken da oben? Sind die nicht im Weg?«
»Kein Problem. Das sind Zirruswolken, Federwolken. Die liegen mehr als 15 000 Fuß hoch.«
»Du überraschst mich, Joseph. Nicht daß ich nicht wüßte, wie ein Fallschirmspringer aussieht, aber ich habe mir nicht vorgestellt, daß er …«
»Alki ist?«
»Zum Beispiel.«
»Hä-hä. Das sind zwei Seiten der gleichen Medaille.«
»Wie meinst du das?«
»Warst du jemals alleine in der Luft, Harry? Bist du jemals geflogen? Bist du mal aus großer Höhe abgesprungen und hast gespürt, daß die Luft versucht, dich oben zu halten, dich aufzufangen und deinen Körper zu streicheln?«
Joseph hatte bereits einen guten Teil der ersten Weinflasche in sich, und seine Stimme hatte einen wärmeren Klang bekommen. Mit glühenden Augen erzählte er Harry von der Schönheit des freien Falls:
»Das öffnet dir die Sinne. Dein ganzer Körper schreit, daß er nicht fliegen kann. ›Ich hab doch keine Flügel‹, schreit er dir zu und versucht lauter zu sein als das Rauschen der Luft, die an deinen Ohren vorbeizischt. Dein Körper ist überzeugt davon, sterben zu müssen, und schlägt Alarm – er öffnet alle Sinne so weit es nur geht, um doch irgendwo einen Ausweg zu finden. Dein Gehirn wird zu dem größten Computer, den es auf der Welt gibt, es registriert alles; deine Haut spürt, wie die Temperatur steigt, je tiefer du fällst, deine Ohren spüren den zunehmenden Druck, und du erkennst jede Furche, jede Farbveränderung in der Karte unter dir. Ja, du kannst den Planeten unter dir sogar riechen. Und wenn es dir gelingt, die Todesangst in den Hintergrund zu drängen, Harry, dann bist du für einen Moment lang dein eigener Engel. Du lebst in vierzig Sekunden ein ganzes Leben.«
»Und wenn es dir nicht gelingt, die Todesangst zu verdrängen?«
»Nicht verdrängen, nur in den Hintergrund schieben. Denn sie muß da sein, als scharfer, klarer Ton, wie kaltes Wasser auf der Haut. Es ist nicht der Fall, sondern die Todesangst, die dir die Sinne öffnet. Sie beginnt wie ein Stoß, wie ein plötzlicher Schwall durch deine Adern, wenn du aus dem Flugzeug springst. Wie sich eine Spritze setzen. Dann mischt sich das Serum mit dem Blut und macht dich selig und stark. Schließt du die Augen, kannst du es sehen, wie eine schöne, giftige Schlange, die in der Nähe liegt und dich mit ihrem Schlangenblick anschaut.«
»Das hört sich bei dir ja an wie Dope.«
»Das ist Dope!« Joseph gestikulierte jetzt wild mit den Armen. »Genau das ist es. Du willst, daß der Fall ewig dauert, und wenn du erst eine Weile gesprungen bist, merkst du, daß es immer schwieriger wird, die Reißleine zu ziehen. Schließlich bekommst du Angst, daß du eines Tages eine Überdosis nimmst und die Reißleine gar nicht mehr ziehst, und du hörst auf zu springen. Und in dem Moment merkst du, daß du abhängig bist. Die Abstinenz reißt und zerrt an dir, und dein Leben wirkt trivial und sinnlos, und schließlich findest du dich selbst wieder auf den engen Sitzen hinter dem Piloten einer kleinen, alten Cessna, die Ewigkeiten braucht, um sich auf 10.000 Fuß hochzuschrauben, dir aber trotzdem all dein Gespartes auffrißt.«
Joseph atmete tief ein und schloß die Augen.
»Kurz gesagt, Harry, es ist die andere Seite der gleichen Medaille. Das Leben ist die Hölle, aber die Alternative ist noch schlimmer. Hä- hä.«
Joseph stützte sich auf seine Ellbogen und nahm einen großen Schluck aus der Weinflasche.
»Ich bin ein Vogel, der nicht mehr fliegen kann. Weißt du, was ein Emu ist, Harry?«
»An australian ostrich – ein australischer Strauß.«
»Kluger Junge.«
Wenn Harry die Augen schloß, hörte er Andrews Stimme. Denn natürlich war das Andrew, der da neben ihm im Gras lag und sich über Wichtiges und Unwichtiges ausließ.
»Kennst du die Geschichte, warum der Emu nicht fliegen kann?«
Harry schüttelte den Kopf.
»Paß auf, Harry. In der Zeit der Träume hatten die Emus Flügel und konnten fliegen. Der Emu wohnte mit seiner Frau am Ufer eines Sees, an welchem sich ihre Tochter mit Jaribu, dem Storch, verheiratet hatte. Eines Tages, als Jaribu und seine Frau beim Fischen einen guten Fang gemacht hatten, fraßen sie fast alles sofort auf, ohne daran zu denken, wie es Sitte war, die besten Stücke für die Schwiegereltern aufzuheben. Als die Tochter mit den restlichen Fischen zu ihren Eltern kam, wurde der Vater, der Emu, wütend. ›Gebe ich euch nicht immer die besten Stücke, wenn ich von der Jagd nach Hause kommen?‹ fragte er, nahm seine Keule und einen Speer und flog hinüber zu Jaribu, um ihm eine gründliche Tracht Prügel zu verabreichen.
Jaribu aber hatte nicht vor, die Schläge hinzunehmen, ohne sich zu wehren, und er nahm einen großen Ast und schlug seinem Schwiegervater die Keule aus der Hand. Dann schlug er ihm zuerst auf die rechte und dann auf die linke Seite, so daß beide Flügel brachen. Der Emu rappelte sich wieder auf und schleuderte seinen Speer auf den Ehemann seiner Tochter. Der Speer fuhr ihm durch das Rückgrat und ragte aus seinem Schnabel heraus. Außer sich vor Schmerzen flog der Storch in die Sümpfe, wo sich der Speer schließlich als sehr hilfreich beim Fischfang erwies. Der Emu aber zog in die trockeneren Gegenden, wo man ihn mit kurzen, lahmen Flügeln, unfähig zu fliegen, herumlaufen sehen kann.«
Joseph setzte die Flasche an den Mund, aber es kamen nur noch ein paar Tropfen. Gekränkt drückte er den Korken wieder hinein. Dann öffnete er die andere Flasche.
»Und deine Geschichte ist ähnlich, Joseph?«
»Nun …«
Es gluckste in der Flasche, also war er bereit.
»Ich habe oben in Cessnok acht Jahre als Ausbilder für Fallschirmspringer gearbeitet. Wir waren eine tolle Truppe und hielten fest zusammen. Niemand wurde reich, weder wir noch der Besitzer des Clubs, der das aus reinem Enthusiasmus machte. Das Geld, das wir als Trainer verdienten, gaben wir für unsere eigenen Sprünge aus. Ich war ein guter Trainer. Einige meinten, ich sei der beste gewesen. Trotzdem hat man mir wegen eines unglücklichen Vorfalls die Ausbildungslizenz entzogen. Sie behaupteten, ich sei bei einem Sprung mit einem der Kursteilnehmer betrunken gewesen. Als wenn ich einen Sprung durch Alkohol versauen würde!«
»Was ist geschehen?«
»Wie meinst du das? Willst du Details wissen?«
»Hast du keine Zeit?«
»Hä-hä. Na gut, du sollst es wissen.«
Die Weinflasche blitzte in der Sonne.
»Es war eine unvorhersehbare Verkettung von unglücklichen Umständen und nicht die Folge eines oder mehrerer Drinks. Erst mal war da das Wetter. Als wir starteten, lag eine Wolkendecke auf etwa 8000 Fuß Höhe. Wenn die Wolken so hoch liegen, gibt es kein Problem, denn man soll die Reißleine nicht eher ziehen, bis man auf etwa 4000 Fuß Höhe ist. Das Wichtigste ist, daß die Schüler die Erde sehen, wenn sich der Schirm geöffnet hat, so daß sie nicht wie die Besessenen Richtung Newcastle steuern, sondern auf die Signale reagieren können, die man ihnen je nach Windrichtung und Topographie am Boden gibt, damit sie sicher in der Landungszone herunterkommen, verstehst du? Als wir abhoben, gab es zwar ein paar Wolken, die seitlich hereintrieben, aber die sahen noch sehr weit entfernt aus. Das Problem war, daß der Club nur eine alte Cessna hatte, die mit Leukoplast, Gebeten und viel gutem Willen zusammengehalten wurde. Das Flugzeug brauchte mehr als zwanzig Minuten, um auf die 10.000 Fuß Höhe zu kommen, in der wir abspringen wollten. Nachdem wir abgehoben hatten, war Wind aufgekommen, und als wir die Wolkenschicht auf 8000 Fuß Höhe durchflogen hatten, war die andere Schicht unter diese Wolken getrieben, ohne daß wir es sahen. Kapiert?«