Toowoomba sah sehr ernst aus.
»Ich bin ein einfacher Mann, Harry. Ich weiß über so etwas nicht besonders viel und auch nicht über Seelen. Aber ich weiß einiges über Andrew Kensington, und wenn es dort oben jemanden gibt und wenn sie dort gute Seelen wollen, dann gehört seine Seele dorthin.« Toowoombas Gesicht leuchtete auf. »Aber wenn es jemanden dort unten gibt, dann glaube ich, daß Andrew lieber dort wäre. Er haßte langweilige Orte.«
Sie mußten beide lächeln.
»Aber weil es eine persönliche Frage war, Harry, will ich dir eine persönliche Antwort geben. Ich glaube, daß meine und Andrews Vorfahren recht hatten. Sie hatten eine nüchterne Einstellung zum Tod. Zwar glaubte man in manchen Stämmen an ein Leben nach dem Tod. Einige glaubten auch daran, wiedergeboren zu werden, daß die Seele von Mensch zu Mensch wandert, und andere, daß die Seele als Geist umherwandeln konnte. Ein paar Stämme waren der Überzeugung, daß die Seelen der Verstorbenen als Sterne am Himmel zu sehen waren. Und so weiter. Aber alle glaubten daran, daß der Mensch früher oder später, nach diesen Stadien, ordentlich, endgültig und definitiv stirbt. Dann wurde man zu einem Häufchen Steine und verschwand. Irgendwie mag ich diesen Gedanken. Diese Ewigkeitsperspektiven lassen einen so schnell müde werden, nicht wahr? Was meinst du?«
»Ich meine, daß dir Andrew mehr hinterlassen hat als bloß den Smoking«, sagte Harry.
Toowoomba lachte.
»Ist das so leicht herauszuhören?« fragte er.
»His master's voice,« entgegnete Harry. »Der Kerl hätte Pfarrer werden sollen.«
Sie blieben vor einem verstaubten kleinen Auto stehen, das offensichtlich Toowoomba gehörte.
»Hör mal, Toowoomba«, sagte Harry wie auf eine plötzliche Eingebung hin, »es kann sein, daß ich jemanden brauchen werde, der Andrew kannte. Die Art, wie er dachte. Warum er tat, was er tat.«
Er richtete sich auf, und ihre Blicke begegneten sich.
»Ich glaube, Andrew ist von jemandem getötet worden«, sagte Harry.
»Bullshit!« sagte Toowoomba heftig. »Du glaubst es nicht, du weißt es. Alle, die Andrew kannten, wissen, daß er niemals freiwillig von einer Party verschwand. Und für ihn war das Leben die größte Party. Ich kenne niemanden, der das Leben so sehr liebte wie Andrew. Egal, was es mit ihm anstellte. Wenn es sein Stil gewesen wäre, auszuchecken – es hätte früher schon viele Gelegenheiten und Gründe dafür gegeben.«
»Dann sind wir uns einig«, sagte Harry.
»Du kannst mich fast immer unter dieser Nummer erreichen«, sagte Toowoomba und kritzelte etwas auf eine Streichholzschachtel. »Das ist eine Handynummer.«
Während Toowoomba in seinem alten weißen Holden davonholperte, blieben Birgitta und Harry zurück. Toowoomba wollte nach Norden, und Harry hatte Birgitta vorgeschlagen, einen Kollegen von ihm zu suchen, der sie mit in die Stadt nehmen konnte. Aber die meisten schienen bereits gefahren zu sein. Da hielt ein alter, stattlicher Buick neben ihnen. Der Fahrer kurbelte die Scheibe herunter, und ein roter Kopf mit einer beeindruckenden Nase kam zum Vorschein. Sie ähnelte einer dieser Kartoffeln, die sich aus vielen kleineren Kartoffeln zusammensetzt und war, wenn das überhaupt noch möglich war, noch röter als der Rest des Kopfes und dabei von einem Netz feiner Adern überzogen.
»Wollt ihr in die Stadt, Leute?« fragte die Nase und forderte sie auf, einzusteigen.
»Meine Name ist Jim Conolly. Das ist meine Frau, Claudia«, sagte er, nachdem sie auf der breiten Rücksitzbank Platz genommen hatten. Ein winzig kleines, dunkles Gesicht drehte sich mit einem strahlenden Lächeln vom Beifahrersitz zu ihnen um. Sie sah indianisch aus und war so klein, daß ihr Kopf kaum über die Rücksitzlehne ragte.
Jim schaute Harry und Birgitta über den Spiegel an.
»Seid Ihr Freunde von Andrew? Kollegen?«
Er steuerte den Schlitten vorsichtig über den Kiesweg, während Harry die Zusammenhänge erklärte.
»Aha, ihr kommt also aus Norwegen und Schweden. Das ist weit weg, wirklich. Ja, ja, fast alle in diesem Land kommen irgendwie von einem weit entfernten Ort. Nimm Claudia zum Beispiel, sie stammt aus Venezuela, wo all die Miß Blablabla herkommen, ihr wißt schon. Wie viele Miß Universums habt ihr da, Claudia? Deine eigene Person mitgezählt? Hähähä.« Er schüttelte sich vor Lachen, so daß seine Augen in den Falten seiner Nase verschwanden, und Claudia lachte mit.
»Ich bin Australier«, fuhr Jim fort. »Mein Ur-Urgroßvater kam aus Irland. Er war ein Mörder und ein Dieb. Hähähä. Wußtet ihr, daß sich die Leute früher nur ungern eingestanden haben, daß sie von Strafgefangenen abstammten? Auch wenn das mehr als hundert Jahre zurücklag? Ich bin immer stolz darauf gewesen. Sie waren es doch, die gemeinsam mit ein paar Matrosen dieses Land aufbauten. And a fine country it is. Wir nennen es hier unten ›the lucky country‹. Ja, ja, die Dinge ändern sich. Inzwischen ist es hoch angesehen, wenn man seine Ahnen bis zu den Strafgefangenen zurückverfolgen kann. Hähähä. Häßliche Sache mit Andrew, nicht wahr?«
Jim redete wie ein Wasserfall. Es gelang Harry und Birgitta lediglich, ein paar kurze Sätze zu erwidern, bevor er weiterplätscherte. Und je schneller er sprach, desto langsamer fuhr er. Wie David Bowie auf Harrys altem Cassettenrecorder. Als kleiner Junge hatte er von seinem Vater einen batteriebetriebenen Cassettenrecorder bekommen, der immer langsamer lief, je lauter man die Musik stellte.
»Andrew und ich haben zusammen bei Jim Chivers geboxt. Wußtet ihr, daß sich Andrew nie seine Nase gebrochen hat? No, Sir, die hat niemals einer zu packen gekriegt. Die haben ja so schon ganz flache Nasen, diese Aborigines, vielleicht hat sich deshalb nie jemand wirklich Gedanken darüber gemacht. Aber innerlich war Andrew heil und ganz. Ein heiles Herz und eine heile Nase. Na ja, so heil wie ein Herz sein kann, wenn man als Säugling von den Behörden entführt worden ist. Das heißt, sein Herz war nach dem Aufstand, den es rund um die australische Meisterschaft in Melbourne gegeben hat, nicht mehr ganz so heil. Ihr habt sicher davon gehört? Da hat er einiges verloren, ja.« Sie fuhren jetzt nicht einmal mehr vierzig.
»Diese Tussi von Campbell, dem Champion, war ganz verrückt nach Andrew, aber sie war wohl schon ihr ganzes Leben so dermaßen mit Schönheit verwöhnt, daß sie es ganz einfach nicht gewohnt war, abgewiesen zu werden. Hätte sie damit umgehen können, dann hätte alles so von Grund auf anders laufen können. Aber als sie an diesem Abend an Andrews Zimmertür klopfte, und er sie höflich aufforderte zu verschwinden, verkraftete sie das nicht und rannte statt dessen zu ihrem Geliebten und behauptete ihm gegenüber, Andrew habe sie angemacht. Sie riefen ihn in seinem Zimmer an und baten ihn, hinunter in die Küche zu kommen. Noch immer kursieren die wildesten Gerüchte über die Prügelei dort unten. Andrews Leben landete danach auf einem Abstellgleis.
Aber seine Nase haben sie nie gekriegt. Hähähä. Seid ihr zusammen?«
»Nein, das kann man nicht gerade sagen«, stammelte Harry.
»Ihr seht so aus«, sagte Jim und schaute sie über den Rückspiegel an. »Ihr wißt es vielleicht selber nicht, aber obgleich ihr beide durch den Ernst der Stunde ein bißchen mitgenommen ausseht, habt ihr dieses Feuer in den Augen. Korrigiert mich, wenn ich etwas Falsches sage, aber ihr seht aus wie Claudia und ich, als wir frisch verliebt waren. So etwa die ersten zwanzig, dreißig Jahre. Hähähä. Jetzt sind wir nur noch verliebt. Hähähä.«
Claudia schaute ihren Mann mit glänzenden Augen an.
»Ich habe Claudia auf einer der Tourneen getroffen. Sie trat als Schlangenmensch auf. Sie kann sich noch heute wie ein Briefumschlag zusammenfalten. Ich weiß eigentlich gar nicht, was ich mit diesem dicken Buick will. Hähähä. Ich machte ihr über ein Jahr lang den Hof, bis ich ihr endlich einen kleinen Kuß geben durfte. Und dann erzählte sie mir, daß sie sich auf den ersten Blick in mich verliebt hätte. Allein das war ja schon sensationell, wenn man bedenkt, daß meine Nase, hier, schon damals mehr Kloppe gekriegt hatte als Andrews in ihrem ganzen Leben. Aber daß sie tatsächlich ein liebes langes Jahr lang die Prüde gespielt hat? Frauen rauben mir manchmal wirklich den letzten Nerv. Was meinst du, Harry?«