McCormack schob seine Unterlippe über die Oberlippe.
»Warum tut sie das alles?«
Es wurde still.
»Weil sie keine Mörder und Vergewaltiger mag«, sagte Harry nach einer langen Pause. »Insbesondere wenn sie Menschen töten, die sie kannte.«
»Und abgesehen davon?«
Es entstand eine noch längere Pause.
»Weil ich sie darum gebeten haben«, sagte Harry schließlich.
»Kann ich dich einen Augenblick stören, Yong?« Yong Sue schaute lächelnd von seinem PC auf. »Sure, mate!«
Harry sank auf einen Stuhl. Der eifrige Chinese hastete weiter über seine Tastatur, wobei er mit einem Auge den Bildschirm und mit dem anderen Harry beobachtete.
»Es wäre gut, wenn das zwischen uns bliebe, Yong, aber ich glaube nicht mehr daran.«
Yong Sue ließ die Tastatur ruhen.
»Ich glaube, bei Evans White handelt es sich um eine Sackgasse«, fuhr Harry fort.
Yong sah verwirrt aus.
»Warum das denn?«
»Das ist nicht leicht zu erklären, aber es gibt ein paar Sachen, die mir nicht aus dem Kopf gehen. Andrew hat versucht, mir damals im Krankenhaus etwas zu sagen. Und auch schon vorher.«
Harry hielt inne. Yong nickte, um zu signalisieren, daß er weiterreden solle.
»Er versuchte mir klarzumachen, daß die Lösung viel näher lag, als ich glaubte. Ich glaube, bei dem Täter handelt es sich um eine Person, die Andrew aus irgendeinem Grund nicht selber stellen konnte. Daß er einen Außenstehenden brauchte. Mich, zum Beispiel – einen Norweger, der einfach hereingeschneit kommt und mit dem nächsten Flugzeug wieder zurückfliegt. Das war mit ein Grund, warum ich auf Otto Rechtnagel gekommen bin. Denn wenn er, ein enger Freund von Andrew, der Mörder gewesen wäre, hätte Andrew sich gewünscht, daß ein anderer ihn außer Gefecht setzt. Aber innerlich kam mir das Ganze schon ein bißchen komisch vor. Mittlerweile begreife ich aber, daß nicht er es war, den Andrew durch mich am Weitermachen hindern wollte, sondern ein anderer.«
Yong räusperte sich:
»Ich habe das bist jetzt noch nie erwähnt, aber mir ist es schon merkwürdig vorgekommen, als Andrew plötzlich mit diesem Zeugen auftauchte, der Evans White am Mordtag in Nimbin gesehen haben wollte. Jetzt, im nachhinein ist mir klar geworden, daß Andrew noch ein anderes Motiv gehabt haben könnte, Evans White aus dem Fokus zu bekommen. Nämlich die Tatsache, daß Evans White etwas gegen ihn in der Hand hatte. Er wußte, daß Andrew heroinabhängig war, und wenn das herausgekommen wäre, hätte das für Andrew das Ende bei der Polizei und eine Zeitlang Gefängnis bedeutet. Ich mag diesen Gedanken nicht, aber hast du mal über die Möglichkeit nachgedacht, daß Andrew und White ein kleines Abkommen getroffen haben, mit dem Ziel, daß Andrew uns von White fernhält?«
»Es fängt langsam an, kompliziert zu werden, Yong, aber – ja, ich habe an diese Möglichkeit gedacht. Und sie verworfen. Denk doch nur daran, daß es Andrew war, der dafür gesorgt hat, daß wir Evans White anhand dieses Bildes identifizieren konnten.«
»Tja«, Yong kratzte sich mit einem Bleistift am Kinn. »Wir hätten das auch ohne ihn geschafft, aber das hätte dann sicher länger gedauert. Weißt du, wie groß bei einem Mordfall die prozentuale Chance ist, daß der Täter der jeweils andere Partner der Beziehung ist? Fünfundachtzig Prozent. Nachdem du den Brief übersetzt hattest, wußte Andrew, daß wir alle verfügbaren Kräfte daransetzen würden, Inger Holters heimlichen Freund zu finden. Wenn er White also wirklich beschützen wollte, ohne sich dabei zu verraten, konnte er ebensogut mithelfen. Nur zum Schein. Hast du es nicht merkwürdig gefunden, daß er diesen Ort nur anhand von ein paar Hauswänden wiedererkannt hat, die er irgendwann vor hundert Jahren im Marihuanarausch gesehen hatte?«
»Vielleicht hast du recht, Yong, ich weiß es nicht. Ich glaube ohnehin, daß es keinen Sinn hat, jetzt, wo alle wissen, was sie zu tun haben, allzuviel Zweifel zu säen. Vielleicht ist Evans White ja doch unser Mann. Aber wenn ich wirklich daran geglaubt hätte, dann hätte ich Birgitta niemals gebeten, dieses Spiel mitzumachen.«
»Also wer, glaubst du, ist unser Mann?«
»Du willst wohl sagen, wer, glaubst du, ist dieses Mal unser Mann?«
Yong lächelte.
»Oder so.«
Harry rieb sich das Kinn.
»Ich hab schon zweimal die Alarmglocken geläutet, Yong. Wenn man zu oft ›Hilfe‹ ruft, kommt schließlich keiner mehr. Deshalb muß ich diesmal wirklich sicher sein!«
»Warum erzählst du mir das Ganze, Harry? Warum nicht einem von unseren Chefs?«
»Weil du ein paar Sachen für mich erledigen kannst, ein paar diskrete Fragen stellen und ein paar Daten besorgen, ohne daß die anderen hier im Hause es mitkriegen.«
»Es soll sonst niemand davon erfahren?«
»Ich weiß, das hört sich ein bißchen fishy an. Und ich weiß, daß du hier mehr zu verlieren hast als die meisten anderen. Aber du bist der einzige, der mir helfen kann, Yong, was meinst du?«
Yong schaute Harry lange an.
»Wird dir das helfen, den Mörder zu stellen, Harry?« fragte er.
»Das hoffe ich.«
18
Der Plan und ein Spaziergang im Park
»Bravo, komm herein.«
Es knackte in den Lautsprechern des Funkempfängers.
»Ich kann alles gut hören«, rief Lebie. »Wie läuft's bei euch da drinnen?«
»Gut«, antwortete Harry.
Er saß auf dem frischgemachten Bett und betrachtete das Bild von Birgitta auf dem Nachtschränkchen. Es war ein Konfirmationsfoto. Sie sah mit all den Locken und ohne Sommersprossen, die man auf dem überbelichteten Bild nicht erkennen konnte, jung, ernst und fremd aus. Es schien ihr nicht gutzugehen. Birgitta hatte behauptet, das Bild stehe als Aufmunterung für schlechte Zeiten dort, als eine Art Beweis, daß alles trotz allem irgendwie weitergegangen war.
»Wie sieht der Zeitplan aus?« rief Lebie aus der Küche.
»Sie ist in einer Viertelstunde mit der Arbeit fertig. Jemand ist gerade bei ihr, um bei ihr den Sender und das Mikrophon anzubringen.«
»Fährt man sie dann in die Darlinghurst Road?«
»Nee. Wir wissen ja nicht, wo dieser White sich aufhält, und er darf sie ja nicht aus einem Auto steigen sehen und mißtrauisch werden. Sie geht vom Albury aus zu Fuß.«
Wadkins kam vom Flur herein.
»Es sieht gut aus. Ich kann im Eingangsbereich hinter dem Mauervorsprung stehen und ihnen hier bis nach oben folgen, ohne bemerkt zu werden. Wir werden dein Mädchen die ganze Zeit über im Auge haben, Holy. Holy, wo steckst du?«
»Hier drinnen, Sir. Ich hab es gehört, das ist gut zu wissen, Sir.«
»Der Funk? Lebie?«
»Ich hab Kontakt, Sir. Alle sind auf ihren Plätzen. Es kann losgehen.«
Harry war noch einmal alles durchgegangen. Vorwärts und rückwärts. Er hatte mit sich selbst eine Diskussion geführt und versucht, die Sache wirklich aus allen Blickwinkeln zu betrachten und sich schließlich entschlossen, daß es ihm egal war, ob sie das als hoffnungsloses Klischee, als kindische Art, etwas zu sagen, oder als zu einfachen Ausweg betrachten würde. Er packte die rote Wildrose, die er gekauft hatte, aus und stellte sie in ein Wasserglas, das neben dem Bild auf dem Nachtschränkchen stand.
Er zögerte etwas. Vielleicht würde sie die ablenken? Vielleicht würde Evans White beginnen, Fragen zu stellen, wenn er eine Rose neben ihrem Bett sah? Er fuhr mit dem Zeigefinger vorsichtig über eine der Dornen. Nein, Birgitta würde die Aufmunterung verstehen, der Anblick der Rose würde ihr im Gegenteil Kraft geben.
Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war acht Uhr.
»Los, laßt uns die Sache hinter uns bringen!« rief er in das Wohnzimmer.
Etwas stimmte nicht. Harry konnte nicht hören, was es war, aber er hörte im Wohnzimmer das Knacken in den Lautsprechern. Zu viel Knacken. Alle wußten genau, was sie tun mußten, wenn also alles nach Plan lief, gab es keinen Grund, so viel über Funk durchzugeben.