»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, fluchte Wadkins. Lebie nahm den Kopfhörer ab und drehte sich zu Harry um.
»Sie ist nicht gekommen«, sagte er.
»Was sagst du da?«
»Sie ist genau um Viertel nach acht im Albury losgegangen. Es sollte von dort nicht mehr als zehn Minuten dauern bis King's Cross. Das ist jetzt aber fünfundzwanzig Minuten her.«
»Ich dachte, ihr hättet gesagt, daß sie die ganze Zeit über unter Aufsicht ist?«
»Vom Treffpunkt an, ja. Warum sollte jemand …«
»Und das Mikrophon? Sie war doch richtig angeschlossen, als sie losging.«
»Sie haben den Kontakt verloren. Erst haben sie alles gehört, und dann war der Kontakt plötzlich weg. Nicht ein Laut.«
»Haben wir eine Karte? Welchen Weg ist sie gegangen?« Er sprach schnell und leise. Lebie nahm den Stadtplan aus seiner Tasche und reichte ihn Harry.
»Welche Straße sollte sie nehmen?« fragte Lebie über Funk.
»Die einfachste Route, die Victoria Street hinunter.«
»Hier, ich hab's«, sagte Harry. »An der Ecke Oxford Street in die Victoria Street, vorbei am St. Vincent Hospital und am Green Park und hinunter zur Kreuzung, wo die Darlinghurst Road anfängt. Von da aus sind es nur noch zweihundert Meter bis zum Hungry John. Das ist doch total einfach!«
Wadkins nahm das Funkgerät.
»Smith, schick zwei Wagen die Victoria Street hinunter, um dieses Mädchen zu finden. Und sag den Leuten, die im Albury waren, daß sie behilflich sein sollen. Ein Wagen bleibt für den Fall, daß sie doch noch auftaucht, am Hungry John stehen. Beeilt euch und macht so wenig Aufruhr wie eben möglich. Und meldet euch, wenn ihr wißt, wo sie ist!«
Wadkins schmiß das Funkgerät in die Ecke. »Scheiße, Scheiße! Was, zum Teufel, passiert hier eigentlich? Hatte sie einen Unfall? Ist sie überfallen worden – oder vergewaltigt, Scheiße noch mal!«
Lebie und Harry schauten sich an.
»Kann White zufällig die Victoria Street entlanggefahren sein, sie gesehen und ins Auto gebeten haben?« überlegte Lebie. »Er hat sie ja früher schon einmal gesehen, im Albury. Vielleicht hat er sie wiedererkannt.«
»Der Sender!« rief Harry plötzlich. »Der Sender muß doch noch arbeiten!«
»Bravo, Bravo! Hier ist Wadkins. Empfangt ihr Signale von dem Sender? Ja? Aus Richtung des Albury? Dann kann sie noch nicht weit weg sein. Los, beeilt euch! Gut. Ende.«
Die drei Männer blieben still nebeneinander sitzen. Lebie schaute verstohlen zu Harry hinüber.
»Frag nach, ob Evans Whites Auto aufgetaucht ist«, sagte Harry.
»Bravo, bitte melden. Lebie hier. Was ist mit dem schwarzen Holden? Hat den jemand gesehen?«
»Negativ.«
Wadkins sprang auf und begann leise fluchend hin und her zu laufen. Harry hatte, seit er den Raum betreten hatte, in der Hocke gesessen und bemerkte erst jetzt, daß seine Oberschenkel zitterten.
Es knackte wieder im Empfänger.
»Charlie, hier ist Bravo, bitte melden.«
Lebie drückte den Empfangsknopf.
»Charlie hier, Bravo, laß hören!«
»Stoltz hier. Wir haben ihre Tasche mit dem Sender und dem Mikrophon im Green Park gefunden. Das Mädchen ist wie vom Erdboden verschluckt.«
»In der Tasche?« rief Harry. »Das sollte ihr doch auf den Körper geklebt werden?«
Wadkins zögerte betroffen.
»Das habe ich wohl vergessen zu sagen, aber wir haben uns gefragt, was passieren würde, wenn er ihr … näherkommen würde … äh, sie anfaßt und, ach, du weißt schon, anmachen würde. Miß Enquist war auch der Meinung, daß es sicherer sei, die Ausrüstung in der Tasche zu haben.«
Harry hatte sich bereits die Jacke angezogen.
»Wohin willst du?« fragte Wadkins.
»Er hat auf sie gewartet«, sagte Harry. »Vielleicht ist er ihr vom Albury aus nachgegangen. Sie konnte nicht einmal schreien. Vermutlich hat er wieder ein Tuch mit Diethyläther benutzt. Wie bei Otto Rechtnagel.«
»Auf offener Straße?« fragte Lebie skeptisch.
»Nee. Im Park. Ich fahr da jetzt hin. Ich kenne da wen.«
Joseph versuchte krampfhaft, die Augen aufzureißen. Er war so voll, daß Harry am liebsten geheult hätte.
»Ich, ich dachte, die hätten geknutscht, Harry.«
»Das hast du jetzt schon viermal gesagt, Joseph. Wie sah er aus? Wohin sind sie gegangen? Hatten sie ein Auto?«
»Wir, Mikke und ich, haben unsere Kommentare abgelassen, als er sie hier an uns vorbeischleppte, daß sie ja noch voller sei als wir und so weiter. Ich glaube, Mikke hat sie richtig ein bißchen beneidet. Hihihi. Willst du Mikke nicht guten Tag sagen? Er ist aus Finnland.«
Mikke lag auf der anderen Bank und hatte sich für diesen Abend bereits verabschiedet.
»Schau mich an, Joseph. Schau mich an! Ich muß sie finden! Verstehst du? Der Typ ist wahrscheinlich ein Mörder!«
»Ich versuche es ja, Harry. Ich versuche mich ja zu erinnern. Scheiße, ich will dir ja helfen!«
Joseph kniff die Augen zusammen und schlug sich mit der Faust gegen die Stirn, wobei er laut jammerte.
»Das ist so verdammt dunkel in diesem Park, so daß ich ja nicht so viel sehen konnte. Ich glaube, er war ziemlich groß.«
»Dick, dünn, hell, dunkel? Hat er gehinkt oder eine Brille getragen? Einen Bart oder einen Hut?«
Joseph verdrehte als Antwort die Augen.
»Do ya habe a fig, mate? Makes me kinda think better, ya know.«
Aber auch nicht alle Zigaretten der Welt konnten den alkoholischen Nebel wegpusten, der Josephs Gehirn vernebelte. Harry gab ihm den Rest seines Zigarettenpäckchens und bat ihn, Mikke, wenn er wieder wach war, zu fragen, ob er sich an etwas erinnerte. Auch wenn er nicht damit rechnete, daß dabei etwas herauskommen würde.
Als Harry wieder zurück in Birgittas Wohnung kam, war es halb zwei Uhr nachts. Lebie saß am Funkgerät und sah Harry mitfühlend an.
»Gave it a burls, did ya? No good, ay?«
Harry verstand nicht ein einziges Wort, nickte aber zustimmend.
»No good«, brummte er und ließ sich auf einen Stuhl fallen.
Harry suchte nach einer Zigarette, bis ihm einfiel, daß er die Schachtel ja Joseph gegeben hatte.
»Ziemlich chaotisch. Wadkins ist kurz davor, vollkommen durchzudrehen, und in halb Sydney rasen sie jetzt wie aufgescheuchte Hühner mit Blaulicht herum. Das einzige, was sie von White wissen, ist, daß er gestern morgen in Nimbin aufgebrochen und mit dem Fire-Flight nach Sydney geflogen ist. Danach hat ihn keiner mehr gesehen.«
Er ließ sich von Lebie eine Zigarette geben, und beide rauchten schweigend.
»Geh nach Hause und schlaf ein bißchen, Sergej. Ich bleibe hier für den Fall, daß Birgitta doch noch auftaucht. Laß das Funkgerät an, damit ich alles mitbekommen kann.«
»Ich kann auch hier schlafen, Harry.«
Harry schüttelte den Kopf. »Geh nach Hause! Ich rufe dich an und wecke dich, wenn es etwas Neues gibt.«
Lebie setzte sich seine Bearscap auf seinen blankpolierten Schädel. An der Tür blieb er noch einen Augenblick stehen.
»Wir werden sie finden, Harry. Ich spüre das irgendwie. So hang in there, mate.«
Harry schaute Lebie an. Es war schwer zu sagen, ob er wirklich glaubte, was er sagte.
Sobald er alleine war, öffnete er das Fenster und ließ seinen Blick über die Hausdächer schweifen. Es war kühler geworden, aber die Luft war noch immer mild und voller Gerüche: Stadt, Menschen und Essen aus aller Herren Länder. Es war eine der schönsten Sommernächte der Welt in einer der schönsten Städte der Welt. Er schaute zu den Sternen hoch. Eine Unendlichkeit kleiner blinkender Lichter, die zu leben und zu pulsieren schienen, wenn er sie nur lange genug anschaute. All diese sinnlose Schönheit.