Vorsichtig versuchte er, seine eigenen Gefühle auszuloten. Vorsichtig, weil er sich nicht erlauben konnte, sich ihnen hinzugeben. Noch nicht, jetzt noch nicht. Zuerst die guten Gefühle. Nur ganz wenig. Er wußte nicht, ob sie ihn stärker oder schwächer machen würden. Birgittas Gesicht zwischen seinen Händen, die Reste eines Lachens, das noch in ihren Augen lag. Dann die schlechten Gefühle. Sie waren es, die er noch für eine Weile aus seinem Leben verdammen mußte, aber er versuchte, ihnen nachzuspüren, wie um sich einen Eindruck von ihrer Kraft zu verschaffen.
Er hatte das Gefühl, in einem U-Boot am Boden eines viel zu tiefen Meeres aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit festzusitzen. Das Meer erhöhte den Druck, und um ihn herum begann es bereits zu knacken und knirschen. Er konnte nur hoffen, daß der Bootskörper das aushielt, daß das lebenslange Training der Selbstbeherrschung endlich zu etwas nütze war. Harry dachte an die Seelen, die zu Sternen wurden, wenn der menschliche Körper starb. Aber es gelang ihm nicht, nach einem ganz speziellen Stern zu suchen.
19
Zwei Gespräche mit einem Mörder, ein Kookaburra und REM-Schlaf
Nach dem Unfall hatte Harry sich wiederholt gefragt, ob er sein Schicksal getauscht hätte, wenn er es gekonnt hätte. So daß er es gewesen wäre, der den Pfosten des Schildes am Sørkedalsvei verbogen, eine zeremonielle Beerdigung mit uniformierten Polizeikräften und trauernden Eltern erhalten hätte, ein Foto im Flur des Polizeipräsidiums und eine mit der Zeit verblassende, aber liebevolle Erinnerung bei Kollegen und Verwandten. War das nicht eine verlockende Alternative zu den Lügen, mit denen er leben mußte und die auf vielerlei Weise noch erniedrigender waren als einfach nur die Schuld- und Schamgefühle?
Anscheinend eine sinnlose und selbstzerstörerische Frage. Aber Harry spürte, daß ihm die Antwort, die er sich geben mußte, ihm die Sicherheit verlieh, die er brauchte, um neu zu beginnen. Er wollte nämlich nicht tauschen. Er war glücklich, am Leben zu sein.
Immer wenn er morgens im Krankenhaus benommen von den Pillen und mit leerem Kopf erwacht war, hatte er das Gefühl gehabt, daß etwas fürchterlich falsch lief. Es dauerte in der Regel ein paar schlaftrunkene Sekunden, bevor seine Erinnerung zu arbeiten begann und ihm mitteilte, wer und wo er war, und ihm dann mit gnadenloser Härte die Geschehnisse ins Gedächtnis zurückrief. Aber dann mußte er immer daran denken, daß er am Leben war. Daß er noch immer im Rennen und sein Spiel noch nicht verspielt war. Das war vielleicht nicht so viel, aber für Harry war es in dieser Situation genug.
Nachdem er das Krankenhaus hatte verlassen dürfen, bekam er einen Termin bei einem Psychiater. »Sie kommen eigentlich ein bißchen spät«, hatte der Psychiater gesagt, »Ihr Unterbewußtsein hat sich bestimmt schon entschieden, wie es die Dinge, die geschehen sind, aufarbeiten will, und diese Entscheidung können wir kaum mehr beeinflussen. Es kann sich zum Beispiel entschieden haben, die Geschehnisse zu verdrängen. Aber wenn es wirklich eine solch schlechte Entscheidung getroffen hat, können wir ja versuchen, diese rückgängig zu machen.«
Harry wußte nur, was ihm sein Unterbewußtsein erzählte, und zwar, daß es gut war, am Leben zu sein, und er wollte nicht riskieren, daß ein Psychiater es dazu brachte, sich anders zu entscheiden, also war es das erste und letzte Mal, daß Harry dort war.
In der darauffolgenden Zeit lernte er auch, daß es eine miese Taktik war, gegen alles, was sich in seinem Kopf befand, gleichzeitig vorzugehen. Erstens wußte er nicht, was in seinem Kopf vorging, jedenfalls hatte er kein klares, vollständiges Bild davon, so daß er sich fühlte, als würde er gegen ein Monster ankämpfen, das er nicht einmal gesehen hatte. Zweitens hatte er eine bessere Chance zu gewinnen, wenn er seinen Krieg in einzelne, kleine Gefechte aufteilte, bei denen er die Übersicht über seinen Feind nicht verlor, seine Schwachpunkte erkennen und ihn mit der Zeit überwältigen konnte. Es war, wie Papier in einen Aktenvernichter zu stopfen. Wenn man zu viel auf einmal hineinsteckt, bekommt die Maschine Panik, fängt an zu husten und gibt schließlich mit einem dumpfen Schlag vollends den Geist auf, so daß man wieder ganz von vorn anfangen muß.
Der Freund eines Kollegen, den Harry bei einer der wenigen Einladungen zum Essen kennenlernte, war Psychologe in der Gemeinde. Er hatte Harry sehr merkwürdig angeschaut, als dieser über seine Art, mit Gefühlen umzugehen, berichtete.
»Krieg?« hatte er gefragt. »Aktenvernichter?«
Er hatte wirklich besorgt ausgesehen.
Harry schlug die Augen auf. Das erste Morgenlicht sickerte zwischen den Gardinen hindurch in das Zimmer. Er schaute auf die Uhr. Es war sechs. Der Empfänger knackte.
»Hier ist Delta. Charlie, bitte melden.« Harry sprang aus dem Sofa und stürzte zum Mikrophon.
»Delta, hier ist Holy. Was ist los?«
»Wir haben Evans White gefunden. Wir haben einen anonymen Hinweis von einer Frau bekommen, die ihn oben in King's Cross gesehen hat und dann drei Wagen hingeschickt und ihn mitgenommen. Er wird gerade verhört.«
»Was hat er gesagt?«
»Er hat alles geleugnet, bis wir ihm die Aufnahme von dem Telefongespräch mit Birgitta vorgespielt haben. Daraufhin erzählte er, daß er kurz nach acht dreimal in einem weißen Honda am Hungry John vorbeigefahren ist. Dann habe er aufgegeben und sei zurück zu seinem Appartement gefahren. Später am Abend sei er dann in einen Nachtclub gegangen, und da haben wir ihn dann auch festgenommen. Die Frau, die uns den Tip gegeben hat, hat übrigens nach dir gefragt.«
»Das hab ich mir fast gedacht. Sie heißt Sandra. Habt ihr seine Wohnung untersucht?«
»Klar. Nichts. Überhaupt nichts. Und Smith sagt, er habe dreimal den gleichen weißen Honda am Hungry John vorbeifahren sehen.«
»Warum ist er nicht, wie abgesprochen, mit einem schwarzen Holden gekommen?«
»White behauptet, er habe bei dem Telefonat mit Birgitta Enquist absichtlich gelogen, für den Fall, daß sie ihn irgendwie aufs Kreuz legen wollte – in case of a setup – so daß er ein paarmal unbemerkt vorbeifahren könne, um zu überprüfen, ob die Luft rein sei.«
»Okay. Ich komme jetzt zu euch hinüber. Telefoniere bitte herum und wecke die anderen.«
»Die anderen sind erst vor zwei Stunden nach Hause gefahren, Holy. Sie waren die ganze Nacht auf und Wadkins hat uns gebeten …«
»Ich scheiße darauf, was Wadkins gesagt hat. Weck sie auf!«
Sie hatten den alten Ventilator wieder in das Besprechungszimmer gestellt. Es war schwer zu sagen, ob ihm die Pause gutgetan hatte, er beschwerte sich jedenfalls lauthals darüber, sein Rentnerdasein wieder aufgeben zu müssen.
Die Besprechung war vorbei, doch Harry war im Zimmer sitzen geblieben. Sein Hemd hatte große, nasse Schweißflecken unter den Armen, und er hatte ein Telefon vor sich auf den Tisch gestellt. Er schloß die Augen und murmelte etwas vor sich hin. Dann hob er den Hörer ab und wählte die Nummer.
»Hella?«
»Hier ist Harry Hole.«
»Harry, es freut mich, daß du auch an einem Sonntagmorgen so früh auf den Beinen bist. Eine gute Angewohnheit. Ich habe auf deinen Anruf gewartet. Bist du alleine, Harry?«
»Ich bin alleine.«
An beiden Enden der Leitung wurde heftig geatmet.
»You're on to me, aren't ya, mate?«
»Ich weiß seit einer Weile, daß du es sein mußt, ja.«
»Gute Arbeit, Harry. Und jetzt rufst du an, weil ich etwas habe, das du wiederhaben willst, right?«
»Richtig.«
Harry wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Du begreifst doch wohl, daß ich sie mir holen mußte, Harry?«
»Nein, das verstehe ich ganz und gar nicht.«
»Come on, Harry, du bist doch nicht blöd. Als ich gehört habe, daß jemand Nachforschungen anstellt, war mir gleich klar, daß du das sein mußt. Ich hoffe nur für dich, daß du klug genug warst, das für dich zu behalten. Hast du das, Harry?«