»Gut. Und Andrew ist aus dem Krankenhaus abgehauen, um die Polizei aufzuhalten, als er begriff, daß wir Otto festnehmen wollten?«
»Ich nehme an, daß er direkt in Ottos Wohnung gefahren ist, um mit ihm zu reden, ihn auf die Festnahme vorzubereiten und ihm einzubläuen, wie wichtig es sei, wegen Toowoomba die Klappe zu halten, damit sie beide, Otto und Andrew, nicht zu tief in die Sache verstrickt würden. Er wollte ihn beruhigen, daß Toowoomba, wie von Andrew geplant, festgenommen werden würde, wenn er nur noch etwas Zeit bekäme. Wenn ich nur noch etwas Zeit bekäme! Aber etwas ging schief. Ich habe keine Ahnung, was. Aber daß es Toowoomba war, der Andrew schließlich ins Jenseits befördert hat, ist für mich ziemlich klar.«
»Warum?«
»Intuition. Gesunder Menschenverstand. Und dann noch ein kleines Detail.«
»Was denn?«
»Als ich Andrew besuchte, hat er mir gesagt, daß Toowoomba am nächsten Tag kommen wollte.«
»Und?«
»Im St. Etienne-Krankenhaus werden alle Besucher registriert, bevor sie zur Rezeption kommen. Yong hat für mich im Krankenhaus angerufen, und nachdem ich gegangen war, hat es keine weiteren Anrufe oder Besuche mehr für Andrew gegeben.«
»Ich komme nicht ganz mit, Harry.«
»Wenn ihm etwas dazwischengekommen wäre, hätte Toowoomba Andrew sicher angerufen, um abzusagen. Da er das nicht tat, konnte er also unmöglich wissen, daß Andrew nicht mehr im Krankenhaus war, bevor er an der Rezeption stand. Nachdem er also in der Besucherliste vermerkt worden war. Außer …«
»Außer, daß er es war, der ihn am Abend zuvor ermordet hat.«
Harry breitete die Hände aus.
»Man besucht doch keinen, der nicht mehr da ist, Sir.«
Es sollte ein langer Sonntag werden. Verdammt, der war doch schon lang genug, dachte Harry. Sie saßen mit hochgekrempelten Ärmeln im Besprechungszimmer und versuchten, genial zu sein.
»Also du rufst ihn über das Handy an«, sagte Wadkins. »Und du glaubst nicht, daß er zu Hause ist?«
Harry schüttelte den Kopf.
»Er ist vorsichtig. Er hat Birgitta irgendwo anders.«
»Vielleicht finden wir jemanden bei ihm zu Hause, der uns einen Tip geben kann, wo er sie versteckt hält?« schlug Lebie vor.
»Nein!« sagte Harry entschlossen. »Wenn er herausfindet, daß wir bei ihm zu Hause waren, weiß er, daß ich geredet habe, und Birgitta ist verloren.«
»Nun, dafür müßte er erst einmal nach Hause kommen, und dann könnten wir ja bereitstehen und ihn festnehmen«, sagte Lebie.
»Was, wenn er Birgitta umbringt, ohne selbst physisch anwesend zu sein?« fragte Harry. »Wenn sie irgendwo gefesselt festsitzt und Toowoomba uns nicht erzählt, wo?« Er blickte in die Runde. »Was, wenn sie zum Beispiel auf einer tickenden Bombe sitzt, die innerhalb von einer gewissen Anzahl Stunden entschärft werden muß?«
»Stop!« Wadkins schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Wir bewegen uns langsam auf Comic-Niveau! Verdammt, sollten wir es plötzlich mit einem Sprengstoffexperten zu tun haben, nur weil er ein paar Mädchen umgebracht hat? Die Zeit vergeht, und wir können nicht einfach auf unseren Ärschen hocken und warten! Ich finde die Idee, mal bei Toowoomba zu Hause vorbeizuschauen, ganz gut. Und es wird uns wohl auch gelingen, ihm eine Falle zu stellen, wenn er sich seiner Wohnung nähern sollte, glaubt mir!«
»Der Kerl ist, verdammt noch mal, nicht dumm!« sagte Harry. »Wir setzen Birgittas Leben aufs Spiel, versteht ihr das denn nicht?«
Wadkins schüttelte den Kopf.
»Sorry, Holy, aber ich fürchte, dein Verhältnis zu der Gekidnappten trübt ein wenig dein rationales Bewußtsein. Wir machen das so, wie ich es gesagt habe.«
Die Nachmittagssonne schien durch die Bäume der Victoria Street. Ein kleiner Kookaburra saß auf der Rückenlehne der anderen leeren Bank und wärmte seine Stimme für das abendliche Konzert auf.
»Du findest es vielleicht merkwürdig, daß heute jemand gutgelaunt herumlaufen kann«, sagte Joseph. »Daß sie in diesem Moment, wenn sie vom Strand, vom Zoo oder von der Großmutter in Wollongong zurückkommen, nur an das Sonntagsessen zu Hause denken. Du empfindest es bestimmt als persönliche Beleidigung, daß die Sonne in einem Moment, in dem du die Welt am liebsten im Elend versinken und in Tränen aufgelöst sehen würdest, mit dem Laub der Bäume spielt. Nun, Harry, mein Freund, was soll ich dir sagen? So ist das Leben. Der Sonntagsbraten wartet, und so muß es ein.«
Harry blinzelte in die Sonne.
»Vielleicht hat sie Hunger, vielleicht tut ihr etwas weh. Das Schlimmste aber ist, zu wissen, was sie für eine Angst haben muß.«
»Sie wird dir eine gute Frau, wenn sie diese Prüfung übersteht«, sagte Joseph und pfiff dem Kookaburra zu.
Harry schaute ihn fragend an. Joseph hatte gesagt, daß der Sonntag sein Ruhetag sei, und er war wirklich nüchtern.
»Früher mußte die Frau eines Aborigines vor der Hochzeit erst drei Prüfungen überstehen«, erklärte Joseph. »Als erstes mußte sie den Hunger überwinden. Sie mußte zwei Tage umherwandern oder jagen, ohne etwas zu essen. Dann wurde sie ganz plötzlich vor ein Lagerfeuer mit einem fertig gebratenen, saftigen Känguruh oder einer anderen Delikatesse geführt. Die Prüfung war, sich zu beherrschen und nicht zu gierig zu sein, sondern nur so viel zu essen, daß auch für die anderen genug übrigblieb.«
»Bei uns gab es früher etwas Ähnliches«, sagte Harry. »Man nannte das Tischmanieren. Ich glaube aber, das gibt es nicht mehr.«
»Bei der zweiten Prüfung mußte sie versuchen, Schmerzen auszuhalten.« Joseph gestikulierte wild, während er erzählte. »Der jungen Frau wurden Nadeln durch Nase und Wangen getrieben, und man ritzte Zeichen auf ihren Körper.«
»Na und? Heute bezahlen die Mädchen dafür!«
»Halt's Maul, Harry. Als letztes, wenn das Feuer ausging, mußte sie sich, nur durch ein paar Zweige von der Glut getrennt, über die Feuerstelle legen. Aber die dritte Prüfung war die schwierigste.«
»Furcht?«
»You bet. Nachdem die Sonne untergegangen war, versammelten sich die Stammesmitglieder am Feuer, und die Ältesten erzählten ihr abwechselnd haarsträubende Geschichten über Geister und muldarpe, den Teufels-Teufel. Manche Geschichten waren ziemlich hart. Anschließend forderte man sie auf, abseits an einem verlassenen Ort oder nahe der Gräber der Ahnen zu schlafen. Im Dunkel der Nacht schlichen sich dann die Ältesten mit weißgemalten Gesichtern oder Masken aus Holz an …!«
»Das ist ja wie Eulen nach Athen tragen?«
»… und machten unheimliche Geräusche. Tut mir leid, daß ich das sagen muß, aber du bist wirklich ein mieses Publikum, Harry.«
Joseph sah beleidigt aus.
Harry rieb sich das Gesicht.
»Ich weiß«, sagte er nach einer Weile. »Tut mir leid, Joseph. Ich bin nur hierhergekommen, um ein bißchen laut zu denken und nachzuprüfen, ob er vielleicht ein paar Spuren hinterlassen hat, die mir ein paar Hinweise geben könnten, wo er sie hingebracht haben kann. Aber es sieht nicht so aus, als wenn ich irgendwie weiterkommen würde, und du bist der einzige, auf den ich das abwälzen kann. Du findest bestimmt, daß ich mich wie ein zynisches, gefühlloses Arschloch anhöre.«
»Du hörst dich an wie einer, der glaubt, gegen die ganze Welt kämpfen zu müssen«, sagte Joseph. »Aber wenn du nicht hin und wieder deine Deckung sinken läßt, werden deine Arme zu müde zum Schlagen werden!«
Harry mußte lächeln.
»Und du bist wirklich ganz sicher, daß du nicht einen älteren Bruder hattest?«
Joseph lachte.
»Wie gesagt, es ist zu spät, um meine Mutter nach so etwas zu fragen, aber ich glaube, sie hätte mir das gesagt.«
»Ihr hört euch einfach wie Brüder an.«
»Das hast du schon ein paarmal gesagt, Harry. Vielleicht solltest du versuchen, ein bißchen zu schlafen.«
Joes Gesicht hellte sich auf, als Harry durch die Tür der Springfield Lodge trat.