»Ein schöner Nachmittag, nicht wahr, Mr. Holy? Sie sehen heute sehr gut aus. Ich habe übrigens ein Päckchen für Sie.« Er streckte Harry ein in graues Papier gewickeltes Paket entgegen, auf dem mit großen Buchstaben Harry Holy stand.
»Von wem ist das?« fragte Harry verwundert.
»Ich weiß nicht, ein Taxifahrer hat das hier vor ein paar Stunden abgegeben.«
In seinem Zimmer legte Harry das Päckchen auf das Bett, entfernte das Papier und öffnete die zum Vorschein kommende Schachtel. Er hatte sich bereits gedacht, von wem das Päckchen stammen mußte, und der Inhalt beseitigte jegliche Zweifeclass="underline" Sechs kleine Plastikröhrchen mit weißen Aufklebern. Er nahm eines der Röhrchen heraus. Es trug das Datum von Inger Holters Todestag und die Aufschrift ›pubic hair‹. Es bedurfte nicht allzu viel Phantasie, um festzustellen, daß die anderen Röhrchen Blut, Kopfhaare, Kleiderfetzen und so weiter enthielten. Und so war es dann auch.
Eine halbe Stunde später wurde er durch das Klingeln des Telefons geweckt.
»Hast du die Sachen bekommen, die ich dir geschickt habe, Harry? Ich dachte mir, daß du alles so schnell wie möglich haben wolltest.«
»Toowoomba.«
»Zu Diensten. Hähä.«
»Ich habe die Sachen bekommen. Inger Holter, nehme ich an. Ich bin neugierig, Toowoomba. Wie hast du sie ermordet?«
»Keine Hexerei«, sagte Toowoomba. »Fast zu einfach. Ich war in der Wohnung von einer Freundin, als Inger spät abends anrief.«
Aha, Otto ist also eine Freundin, wollte Harry sagen, hielt sich aber zurück.
»Inger brachte Fressen für den Hund meiner Freundin, oder besser, meiner ehemaligen Freundin. Ich war in die Wohnung gegangen, hatte aber den ganzen Abend alleine dort verbracht, denn meine Freundin war wie üblich die ganze Zeit unterwegs.«
Harry hörte, daß die Stimme einen schärferen Klang bekam.
»Bist du da nicht ein ziemlich großes Risiko eingegangen?« fragte Harry. »Es hätte ja jemand wissen können, daß sie zu der Wohnung deiner … äh, Freundin wollte?«
»Ich habe sie gefragt«, erwiderte Toowoomba.
»Du hast sie gefragt?« wiederholte Harry ungläubig.
»Es ist unglaublich, wie naiv die Menschen sein können. Sie antworten, bevor sie nachdenken, weil sie sich sicher fühlen und glauben, nicht denken zu müssen. Sie war ein so süßes, unschuldiges Mädchen. ›Nein, keiner weiß etwas davon, daß ich hier bin, warum?‹ hat sie mich sogar gefragt. Hähähä. Ich fühlte mich wie der Wolf in Rotkäppchen. Also erklärte ich ihr, daß sie mir sehr gelegen käme. Oder hätte ich sagen sollen, ungelegen? Hähä. Willst du den Rest auch noch hören?«
Harry wollte gerne den Rest hören. Am liebsten hätte er alles gewußt, bis ins kleinste Detail, wie Toowoomba als Kind gewesen war, wann er zum ersten Mal getötet hatte, warum er kein festes Ritual hatte, warum er die Frauen manchmal nur vergewaltigte, wie er sich nach den Morden fühlte und ob er, wie so viele Serienmörder, nach der Ekstase deprimiert war, weil es auch diesmal nicht perfekt war, nicht so, wie er es geträumt und geplant hatte. Er wollte wissen wie viele, wann und wo, welche Methoden und Werkzeuge. Und er wollte die Emotionen begreifen, die Leidenschaft verstehen, was die Triebkraft dieses Wahns war.
Aber er konnte es nicht. Nicht jetzt. In diesem Moment war es ihm egal, ob er Inger vor oder nach dem Mord vergewaltigt hatte, ob es eine Strafe war, weil Otto ihn alleine gelassen hatte, ob er sie hinterher gewaschen hatte oder ob er sie in der Wohnung oder im Auto getötet hatte. Harry wollte nicht wissen, ob sie ihn angefleht hatte, ob sie geweint oder Toowoomba angestarrt hatte, als sie wußte, daß sie in der nächsten Sekunde sterben würde. Er wollte es nicht wissen, weil es ihm nicht gelungen wäre, Ingers Gesicht nicht durch das von Birgitta zu ersetzen, das hätte ihm alle Kräfte geraubt und ihn schwach werden lassen.
»Woher wußtest du, wo ich wohne?« fragte Harry, um etwas zu sagen und das Gespräch nicht abzubrechen.
»Harry, bitte! Fängst du an, müde zu werden? Du hast mir doch beim letzten Mal, als wir zusammen weg waren, gesagt, wo du wohnst. Übrigens danke für den schönen Abend neulich, das habe ich beim letzten Anruf glatt vergessen.«
»Hör mal, Toowoomba …«
»Ich habe mich ernsthaft gefragt, warum du mich an diesem Abend angerufen und gefragt hast, ob ich dir helfen kann, Harry. Abgesehen davon, die beiden Anabolika-Smokings ein bißchen zurechtzustutzen. Das war ja so weit ganz spaßig, aber waren wir wirklich nur da, damit du dich bei diesem Zuhälter für die Sonderbehandlung bedanken konntest? Ich bin vielleicht kein großer Menschenkenner, Harry, aber für mich paßt das Ganze nicht recht zusammen. Du steckst mitten in den Ermittlungen über einen Mord und vergeudest deine Kräfte für so eine Lappalie, weil du in einem Nachtclub etwas grob angefaßt worden bist?«
»Nun …«
»Nun, Harry?«
»Nicht nur. Das Mädchen, das wir im Centennial Park gefunden haben, hat zufällig in diesem Nachtclub gearbeitet, und so hatte ich die Hoffnung, daß derjenige, der sie getötet hat, vielleicht im Club war, am Bühnenausgang auf sie gewartet und sie dann auf dem Weg nach Hause verfolgt hat. Ich wollte wissen, wie du reagieren würdest, wenn dir klarwerden würde, wohin wir gingen. Außerdem bist du ja eine ziemlich auffällige Erscheinung, und ich wollte Mongabi auf dich aufmerksam machen, um zu überprüfen, ob er dich am Abend zuvor bemerkt hatte.«
»No luck?«
»Nee, Fehlanzeige, ich nehme an, du warst nicht da.«
Toowoomba lachte.
»Ich hatte nicht einmal einen blassen Schimmer, daß sie Stripperin war«, sagte er. »Ich sah sie in den Park gehen und dachte mir auch da, daß ihr jemand sagen sollte, daß das um die Uhrzeit gefährlich sei. Und dann habe ich ihr demonstriert, was da so alles passieren kann.«
»Nun, dann ist die Sache ja wenigstens gelöst«, sagte Harry trocken.
»Schade, daß sich außer dir niemand darüber freuen können wird«, erwiderte Toowoomba.
Harry entschloß sich, aufs Ganze zu gehen.
»Weil es niemanden sonst gibt, der sich darüber freuen kann, kannst du mir ja vielleicht auch erklären, was mit Andrew in Otto Rechtnagels Wohnung geschehen ist. Denn deine Freundin, das war doch wohl Otto, nicht wahr?«
Am anderen Ende der Leitung wurde es still.
»Willst du nicht lieber wissen, wie es Birgitta geht?«
»Nein«, antwortete Harry und strengte sich an, nicht zu schnell und nicht zu laut zu reden. »Du hast mir versprochen, sie so zu behandeln, wie sich das für einen Gentleman gehört, und ich vertraue dir.«
»Ich hoffe, du versuchst nicht, mir ein schlechtes Gewissen zu machen, Harry. Das wäre völlig nutzlos. Ich bin ein Psychopath. Überrascht es dich, daß ich das weiß?«
Toowoomba lachte leise.
»Erschreckend, nicht wahr? Wir Psychopathen sollten ja eigentlich nicht wissen, daß wir Psychopathen sind. Aber ich wußte das die ganze Zeit. Und Otto. Otto wußte, daß ich sie hin und wieder bestrafen mußte. Aber Otto konnte nicht länger schweigen. Er hatte es schon Andrew erzählt und war im Begriff, vollends zusammenzubrechen. Ich mußte ganz einfach etwas tun. An dem Nachmittag, an dem Otto seinen Auftritt im St. George-Theater hatte, bin ich in seine Wohnung gegangen, um alles, was eine Verbindung zu mir hätte herstellen können, zu beseitigen. Also alle Bilder, Geschenke, Briefe und so weiter. Da klingelte es plötzlich an der Tür. Ich schaute vorsichtig aus dem Schlafzimmerfenster und sah zu meinem Erstaunen, daß es Andrew war. Zuerst wollte ich nicht aufmachen. Aber dann wurde mir klar, daß mein ursprünglicher Plan kaum mehr durchzuführen war. Ich hatte nämlich vor, Andrew am nächsten Tag im Krankenhaus zu besuchen und ihm still und heimlich einen Teelöffel, ein Feuerzeug, eine Einmalspritze sowie ein kleines Tütchen mit seinem heißersehnten Junk, angereichert mit meiner eigenen Hausmischung, mitzubringen.«
»Ein tödlicher Cocktail.«