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»Crescent, King's Cross, Sir

»King's Cross, eben. Da sind Sie nicht der erste Norweger. Vor ein paar Jahren hatten wir offiziellen Besuch von dem norwegischen Bischof oder so, ich weiß nicht mehr genau, wie das hieß. Sein Büro in Oslo hatte jedenfalls ein Zimmer im King's Cross Hotel für ihn reservieren lassen. Sie hatten geglaubt, der Name des Hotels habe irgendeine biblische Bedeutung. Als der Bischof mit seiner Gefolgschaft abends im Hotel ankam, erblickte eine der alten, eingetrockneten Huren den priesterlichen Kragen und machte ihm eine paar saftige Angebote. Ich glaube, der Bischof hat schneller wieder ausgecheckt, als seine Koffer auf dem Zimmer waren …!«

McCormack lachte, daß ihm die Tränen kamen.

»Ja, ja, Holy, was haben Sie heute vor?«

»Ich frage mich, ob es möglich ist, einen Blick auf die Leiche von Inger Holter zu werfen, bevor man sie nach Norwegen überführt, Sir

»Kensington kann Sie zur Gerichtsmedizin begleiten, wenn er kommt. Aber Sie haben doch eine Kopie des Obduktionsberichtes erhalten?«

»Doch, doch, ja, Sir, nur …«

»Nur?«

»Ich kann besser denken, wenn ich die Leiche vor mir sehe.«

McCormack drehte sich zum Fenster und murmelte etwas, das Harry als Okay deutete.

Im Keller des South Sydney Morgue waren es acht Grad, auf der Straße draußen achtundzwanzig.

»Bist du jetzt klüger?« fragte Andrew. Er fröstelte und schlang die Jacke enger um seinen Körper.

»Klüger? Nein«, sagte Harry und betrachtete die sterblichen Überreste von Inger Holter. Das Gesicht hatte den Sturz recht gut überstanden. Ein Nasenloch war aufgerissen, und der eine Kieferknochen war in einer tiefen Mulde nach innen gedrückt, aber es gab keinen Zweifel, daß das wachsbleiche Gesicht zu dem gleichen Mädchen gehörte, das auf dem Bild im Polizeibericht so fröhlich strahlte. Am Hals waren schwarze Male zu erkennen. Auf dem restlichen Körper befanden sich überall blaue Flecken, Rißwunden und mehr oder weniger tiefe Schnitte. Einer von ihnen war so tief, daß man direkt bis auf den Knochen sehen konnte.

»Die Eltern wollten die Bilder sehen. Die norwegische Botschaft hat darauf hingewiesen, daß das nicht ratsam sei, aber der Rechtsanwalt hat darauf bestanden. Eine Mutter sollte ihre Tochter nicht so sehen.« Andrew schüttelte den Kopf.

Harry untersuchte die Würgemale am Hals mit einem Vergrößerungsglas.

»Der Mörder hat sie mit den bloßen Händen erwürgt. Es ist nicht leicht, einen Menschen so zu töten. Der Täter muß entweder sehr stark oder unheimlich motiviert gewesen sein.«

»Oder es schon ein paarmal gemacht haben.«

Harry schaute zu Andrew.

»Wie meinst du das?«

»Sie hat keine Hautreste unter den Fingernägeln, keine abgerissenen Haare des Mörders an ihrer Kleidung, und ihre Fingerknöchel zeigen nicht die Spur eines Kampfes. Sie muß so rasch und effektiv getötet worden sein, daß sie gar nicht mehr dazu gekommen ist, Widerstand zu leisten.«

»Erinnert diese Vorgehensweise an etwas, mit dem ihr früher schon einmal zu tun hattet?«

Andrew zuckte mit den Schultern.

»Wenn man lange genug gearbeitet hat, erinnern einen alle Morde an irgend etwas, das man schon einmal gesehen hat.«

Nein, dachte Harry. Im Gegenteil. Wenn man lange genug gearbeitet hat, lernt man, die kleinen Nuancen eines jeden Mordes zu erkennen, die Details der jeweiligen Tat, die sie von allen anderen unterscheidet.

Andrew warf einen Blick auf seine Uhr.

»In einer halben Stunde beginnt unsere morgendliche Besprechung. Wir sollten uns beeilen.«

Der Leiter der Ermittlungskommission war Larry Wadkins, ein Kommissar mit Jurastudium, der dabei war, auf direktem Wege die Karriereleiter emporzuklettern. Er hatte schmale Lippen, schütteres Haar und redete schnell und sachlich, ohne Emotionen oder unnötige Adjektive.

»Oder soziales Gespür«, sagte Andrew ohne Umschweife. »Ein verdammt guter Ermittler, aber du darfst ihn nicht bitten, den Eltern mitzuteilen, daß ihre Tochter tot aufgefunden worden ist. Und wenn er Streß hat, fängt er sofort an zu fluchen«, fügte Andrew noch hinzu.

Wadkins »rechte Hand« war Sergej Lebie, ein kahlköpfiger, immer gut angezogener Jugoslawe mit einem schwarzen Spitzbart, der ihn wie einen Mephisto im Anzug wirken ließ. Andrew sagte, daß er Männern, die so auf ihr Aussehen bedacht seien, normalerweise immer mit großer Skepsis begegne: »Aber Lebie ist eigentlich kein Dressman, er nimmt das nur sehr genau. Unter anderem hat er die Marotte, seine Nägel zu begutachten, wenn jemand mit ihm spricht, aber das ist nicht arrogant gemeint. Und nach jeder Lunchpause putzt er seine Schuhe. Und erwarte bloß nicht, daß er viel redet, weder über sich selbst noch über sonst irgend etwas.«

Der jüngste im Team war Yong Sue, ein kleiner, spindeldürrer sympathischer Kerl, der immer ein Lächeln am Ende seines dünnen Vogelhalses spazierenführte. Yong Sues Familie war vor dreißig Jahren von China nach Australien gekommen. Vor zehn Jahren, Yong Sue war damals neunzehn, reisten seine Eltern für einen Besuch zurück nach China. Sie kamen nie wieder zurück. Der Großvater meinte, daß sein Sohn in etwas »Politisches« involviert gewesen sei, aber er wollte der Sache nicht nachgehen. Sue hatte nie herausgefunden, was wirklich geschehen war. Jetzt mußte er sich um die Großeltern und zwei jüngere Geschwister kümmern, arbeitete zwölf Stunden am Tag und lächelte mindestens zehn davon. ›Wenn du einen schlechten Witz weißt, erzähl ihn Sue, er lacht über alles,‹ hatte Andrew gesagt. Jetzt waren alle in einem winzigen, engen Zimmer versammelt, in dem ein jammernder Eckventilator für eine gewisse Luftbewegung sorgte. Wadkins stand vorne vor einer Tafel und stellte Harry vor.

»Unser norwegischer Kollege hat den Brief übersetzt, den wir in Ingers Wohnung gefunden haben. Können Sie uns dazu etwas Interessantes sagen, Hole?«

»Ho-li!«

»Sorry, Holy

»Nun, sie hatte anscheinend gerade ein Verhältnis mit einem Mann namens Evans begonnen. Ausgehend von dem, was in dem Brief stand, ist anzunehmen, daß es sich bei dem Mann auf dem Foto über dem Schreibtisch um ihn handelt.«

»Wir haben das überprüft«, sagte Lebie. »Wir glauben, es ist Evans White.«

»Ach ja?« Wadkins hob die eine Augenbraue leicht an.

»Viel wissen wir nicht über ihn. Seine Eltern kamen Ende der sechziger Jahre aus den USA hierher und bekamen eine Aufenthaltsgenehmigung. Das war damals kein Problem«, fügte Lebie erklärend hinzu.

»Jedenfalls – sie fuhren mit einem VW-Bus quer durch das Land, vermutlich ernährten sie sich wie damals üblich von vegetarischer Kost, Marihuana und LSD. Dann bekamen sie ein Kind, trennten sich, und als Evans achtzehn Jahre alt war, kehrte der Vater in die USA zurück. Die Mutter hat mit Healing, Scientology und Astralmystik zu tun. Sie betreibt einen Laden namens Crystal Castle auf einer Ranch an der Gold Coast. Dort verkauft sie Steine mit Karma und aus Thailand importierten Stoff an durchreisende Touristen und andere suchende Seelen. Evans entschloß sich, mit achtzehn das zu tun, was immer mehr junge Australier machen«, sagte er, jetzt wieder zu Harry gewandt: »Nichts.«

Andrew lehnte sich zu ihm herüber und flüsterte leise: »Australien ist das perfekte Land, um ein bißchen zu surfen und ansonsten das Leben zu genießen. Ein super soziales Netz und ein tolles Klima. Wir wohnen in einem wunderbaren Land.« Er lehnte sich wieder zurück.

»Zur Zeit haben wir keine Adresse von ihm«, berichtete Lebie, »aber wir glauben, daß er bis vor kurzem zusammen mit Sydneys white trash in einer Baracke am Stadtrand gehaust hat. Alle, mit denen wir dort draußen gesprochen haben, sagen, daß sie ihn schon eine Weile nicht mehr gesehen haben. Er ist noch nie im Gefängnis gewesen. Leider haben wir deshalb nur ein Bild von ihm als Dreizehnjährigem, als er einen Paß bekam.«

»Ich bin beeindruckt«, sagte Harry aufrichtig. »Wie ist es Ihnen in so kurzer Zeit gelungen, nur anhand eines Fotos und eines Vornamens einen Mann ohne Akte zu finden? Und das bei einer Bevölkerung von achtzehn Millionen?«