»Versprich mir, hier unten bloß nicht zu schießen«, sagte Harry. »Ich will nicht die halbe Jackson Bay und ein Dutzend weißer Haie im Schoß haben, okay?«
»Don't worry«, antwortete Lebie.
Sie kamen auf die andere Seite des Aquariums, wo es jetzt beinahe menschenleer war. Harry fluchte.
»Um sieben ist die Kasse geschlossen worden«, erklärte Lebie. »Jetzt müssen nur noch alle rausgehen.«
McCormack bemerkte:
»Es sieht leider so aus, als wäre unser Vogel ausgeflogen, Jungs. Kommt zurück zum Überwachungsraum.«
»Warte hier«, sagte Harry zu Lebie.
Draußen vor der Kasse stand ein bekanntes Gesicht in Uniform. Harry ging auf ihn zu.
»Hallo, Ben, erinnerst du dich an mich?« fragte Harry. »Ich war zusammen mit Birgitta hier.«
Ben drehte sich um und schaute den aufgeregten Blondschopf an. »Na klar«, antwortete er, »Harry, das war doch dein Name, oder? Ja, ja, du bist also noch einmal vorbeigekommen? Die meisten kommen wieder. Wie geht es Birgitta?«
Harry schluckte.
»Hör mal, Ben. Ich bin Polizist. Wie du sicher schon gehört hast, suchen wir einen sehr gefährlichen Mann. Wir können ihn nicht finden, ich habe aber so ein Gefühl, daß er noch immer hier ist. Niemand kennt das Aquarium besser als du, Ben – gibt es einen Ort, wo er sich versteckt haben könnte?«
Ben legte sein Gesicht in tiefe, nachdenkliche Falten.
»Tja«, sagte er. »Weißt du, wo Matilda, das Salzwasserkrokodil, ist?«
»Ja?«
»Zwischen dem kleinen Schlaumeier, den wir Fiddler Ray nennen, und der großen Meeresschildkröte, das heißt, die ist ja umgezogen, jetzt wird da ein Damm gebaut, damit wir noch ein paar kleine Süßwasserkroko …«
»Ich weiß, wo das ist. Es eilt, Ben!«
»Gut. Wenn man sportlich genug ist und nicht zu viel Angst hat, kann man in der Ecke über das Plexiglas springen.«
»Zu dem Krokodil hinein?«
»Das liegt die meiste Zeit doch nur müde auf dem Damm und döst vor sich hin. Von der Ecke sind es nur vier, fünf Schritte bis zu der Tür, durch die wir gehen, wenn wir Matildas Käfig saubermachen oder sie füttern. Aber du mußt aufpassen, denn so ein saltie ist unglaublich schnell, das stürzt sich mit seinen zwei Tonnen Gewicht schneller auf dich, als du reagieren kannst. Wir sollten einmal …«
»Danke, Ben.« Harry rannte so schnell, daß die Menschen zur Seite sprangen. Er schlug seinen Jackenkragen zur Seite und sprach ins Mikrophon: »McCormack, Holy hier. Ich werde hinter dem Krokodilkäfig suchen.«
Er packte Lebie unter dem Arm und zerrte ihn mit sich. »Unsere letzte Chance«, sagte er. Lebies Augen weiteten sich, als Harry vor dem Krokodilkäfig anhielt und Anlauf nahm. »Komm mit«, sagte Harry und schwang sich über das Plexiglas.
Als seine Füße auf dem Boden aufsetzten, begann es auf der anderen Seite des Damms zu kochen. Weißer Schaum spritzte auf, und als Harry zur Tür hinüberging, sah er einen grünen Formel 1-Wagen mit wie Schneebesen wirbelnden kleinen Echsenbeinen aus dem Wasser schießen. Harry rannte los, rutschte aber in dem losen Sand weg. Weit hinter sich hörte er Schreie, und aus dem Augenwinkel sah er die aufgeklappte Motorhaube des Rennwagens. Er nahm die Beine in die Hand, stürzte zur Tür hinüber und ergriff die Klinke. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte Harry, daß die Tür bestimmt verschlossen war. Doch im nächsten Augenblick war er durch sie verschwunden. Eine Szene aus Jurassic Park kam ihm ins Gedächtnis, und er schloß die Tür. Nur zur Sicherheit.
Er zog seine Pistole. In dem feuchten Raum lag ein übler Gestank einer Mischung aus Waschmittel und halbverfaultem Fisch.
»Harry!« Es war McCormack, der über das Funkgerät mit ihm sprach. »Erstens gibt es einfachere Wege dorthin, wo du jetzt bist, als über den Teller dieses Biestes, und zweitens verhältst du dich jetzt ruhig, bis Lebie zu dir herüberkommt.«
»I …be nicht … gehö … Sie … sagt … ben, Sir!« sagte Harry und kratzte mit einem Fingernagel über das Mikrophon. »Gehe … lleine weit …!«
Er öffnete die Tür am anderen Ende des Raumes und kam in einen zylinderförmigen Turm mit einer Wendeltreppe. Harry nahm an, daß es nach unten zu den Tunneln unter dem Meer ging und entschloß sich, nach oben zu gehen. Auch auf dem nächsten Absatz gab es eine Tür. Sein Blick folgte der Treppe nach oben, aber es schien keine weitere Tür mehr zu geben.
Er drückte die Klinke nach unten und schob die Tür mit gezückter Pistole vorsichtig auf. In dem Raum war es stockfinster, und der Geruch nach fauligem Fisch nahm ihm beinahe den Atem.
Harry fand gleich neben der Tür einen Lichtschalter, den er mit der linken Hand betätigte, aber das Licht ging nicht an. Er ließ die Tür los und trat zwei vorsichtige Schritte vor. Es knackte unter seinen Füßen. Harry erriet, um was es sich da handelte und glitt lautlos zur Tür zurück. Jemand hatte die Glühbirne an der Decke zerschlagen. Er hielt den Atem an und lauschte. War sonst noch jemand im Raum? Eine Lüftung rauschte.
Harry schlüpfte wieder auf den Treppenabsatz hinaus.
»McCormack«, flüsterte er ins Mikrophon. »Ich glaube, er ist da drin. Hören Sie, tun Sie mir einen Gefallen und wählen Sie seine Handynummer!«
»Harry Holy, wo steckst du?«
»Jetzt, Sir! Bitte!«
»Harry, laß das Ganze nicht zu einer persönlichen Vendetta ausarten, das ist …«
»Es ist warm heute, Sir. Wollen Sie mir jetzt helfen oder nicht?«
Harry hörte McCormacks schweren Atem.
»In Ordnung, ich wähle jetzt die Nummer.«
Harry schob die Tür mit dem Fuß auf, stellte sich breitbeinig, die Pistole mit beiden Händen fest umklammert, auf und wartete auf das Klingeln. Die Zeit erschien ihm wie ein hängender Tropfen, der einfach nicht herabfallen wollte. Es vergingen vielleicht zwei Sekunden. Nicht ein Laut war zu hören.
Er ist nicht hier, dachte Harry.
Dann geschahen drei Dinge gleichzeitig.
Zum einen begann McCormack zu reden.
»Er hat sein Handy abge …«
Zum anderen wurde Harry klar, daß sich seine Silhouette wie die eines laufenden Keilers in der Türöffnung abzeichnete, und zum dritten explodierte seine Welt plötzlich in einem Regen aus Sternen und roten Flecken, die über seine Netzhaut tanzten.
Harry erinnerte sich an Bruchteile von Andrews Boxlektion, die er ihm auf ihrer gemeinsamen Fahrt nach Nimbin erteilt hatte. Zum Beispiel, daß ein Haken eines professionellen Boxers in der Regel mehr als genug ist, um einen untrainierten Mann bewußtlos zu schlagen. Indem er die Hüfte mitschwingt, kann er den ganzen Oberkörper hinter den Schlag bekommen, was diesem eine solche Kraft gibt, daß das Gehirn augenblicklich aussetzt. Ein präzise am Kinn plazierter Uppercut läßt dich vom Boden abheben und schickt dich spontan in die Welt der Träume. Garantiert. Auch die perfekte rechte Gerade eines Rechtshänders läßt dir kaum die Chance, hinterher noch auf den Beinen zu stehen. Und das Wichtigste von allem: Wenn du den Schlag nicht kommen siehst, kann der Körper auch nicht reagieren und ausweichen. Schon eine kleine Bewegung mit dem Kopf kann die Wirkung eines Schlages deutlich abschwächen. Es ist meistens so, daß die Boxer den letzten Schlag, durch den sie k.o. gehen, gar nicht gesehen haben.
Die einzige Erklärung dafür, daß Harry nicht bewußtlos war, war also, daß der Mann im Dunkeln links neben ihm gestanden hatte. Weil Harry sich in der Türöffnung befand, war es ihm unmöglich gewesen, seine Schläfe zu treffen, etwas, das laut Andrew sicher ausgereicht hätte. Auch konnte er ihm keinen effektiven Haken oder Uppercut verpassen, weil Harry ja seine Hände mit der Pistole vor sich gehalten hatte. Und auch keine rechte Gerade, denn dann hätte er sich unmittelbar vor die Pistole stellen müssen. Die einzige Möglichkeit bestand in einer linken Geraden, ein Schlag, den Andrew als »Fräuleinchenschlag« bezeichnet hatte und der allenfalls dazu geeignet sei, den Gegner zu irritieren oder ihn weichzuklopfen, der bei einem richtigen Faustkampf auf der Straße aber nichts zu suchen habe. Es ist möglich, daß Andrew recht hatte, aber dieser Schlag hatte Harry rücklings auf die Wendeltreppe taumeln lassen, wo er mit dem Kreuz auf die Kante des Geländers aufgeschlagen und beinahe nach unten gestürzt war.