Das Flugzeug kreiste jetzt ganz niedrig über der Stadt. Mohr erkannte nun auch, wo die Masse der Bogotaner wohnte. Die Ärmsten der Armen hausten in den Berghängen, Höhle an Höhle, durch Treppen verbunden, mehrere Stockwerke übereinander, mit kleinen Austritten und Plateaus. Ein Gewimmel von Menschen. Termiten mit menschlichen Körpern. Eine Million Ausgestoßene, um die sich keiner kümmerte. Die genaue Zahl kannte niemand. Es war ein Kommen und Gehen, ein Sterben und Gebären. Wer vom Land in die Stadt kam und in den Bergwohnungen verschwand, entzog sich jeder Kenntnis und konnte daher nie registriert werden.
Ewald Fachtmann erwartete Peter Mohr am Ausgang der Paßkontrolle. Er umarmte seinen Kollegen, drückte ihn an sich und rief» Junge! Willkommen in Kolumbien! Verdammt, jetzt saufen wir erst mal einen!«
«Du hast dich kaum verändert. «Mohr betrachtete den alten Freund aus Heidelberger Zeiten.»Dicker bist du geworden, das ist aber auch alles. Keine Frau?«
«Bei diesem Überangebot von liegefreudigen Mädchen?! Ich bitte dich! Das wirst du noch kennenlernen: Du blickst einmal in die Runde und hast zehn an der Hose hängen! Hier wimmelt es von armen Luderchen aus den Bergen, die bei dir sofort einen 20-Pe-soschein wittern, wenn sie die Bluse aufknöpfen. Und da gibt es was zu greifen, Othello! Bogota-Mädchen sind berühmt für ihre Schönheit!«Er musterte Dr. Mohr und nickte mehrmals.»Seriöser bist du geworden. Ein etablierter Arzt! Aber deine Löckchen sind wie früher, und die werden die Weiber um den Verstand bringen. Du siehst aus, als solltest du unterentwickelte Gegenden aufzüchten! Haha!«
Sie verließen Arm in Arm die Flughafenhalle. Der Gepäckträger, ein Halbindianer, schleifte Mohrs Koffer hinter ihnen her. Vor dem Airport stand Fachtmanns Wagen, ein weißer Buick.
«Dünne Luft«, sagte Mohr. Fachtmann nickte.
«Bogota liegt 2.640 m über dem Meeresspiegel. Immer Hochgebirgsklima, aber man merkt es nach einiger Zeit nicht mehr. Dafür herrscht hier aber auch nie solch eine Bullenhitze wie in der Hafenstadt Barranquilla beispielsweise. Da mußt du dich in manchen Monaten mit Wärmegraden um die 34 o anfreunden. Selbst die Nächte bringen die ersehnte Erleichterung nicht, weil es zu dieser Zeit dann bestenfalls auf 24 o abkühlt. Siehst du, da haben wir es hier besser. Nur als Neuling kommst du anfangs noch außer Puste, wenn du dich überanstrengst, zum Beispiel im Bett.«
«Andere Themen kennst du wohl nicht?«fragte Dr. Mohr.
«Mein lieber Pit, für uns Europäer gibt es in Kolumbien drei Dinge, die den Tagesablauf beherrschen: Geldmachen, Saufen und Mädchen. Das gilt für alle, bis auf ein paar Heilige: Einer ist gerade gelandet: Dr. Peter Mohr. Bei ihm wird es heißen: helfen, sich aus Gutmütigkeit und Edelmut übers Ohr hauen lassen, später aus Kummer saufen! Es sei denn, du funktionierst dich um.«
Sie führen in die brodelnde Stadt hinein, kamen durch Vorstädte, die noch im alten spanischen Stil gebaut waren, sahen die typischen bunt bemalten Häuser, dazwischen Hütten aus Brettern und Wellblech mit Dächern aus Steinen und ausgeschnittenen Benzinfässern. Dann die neue Stadt, der Stolz Kolumbiens. Weite Avenuen, Parks, Denkmäler von Nationalgrößen, Bankpaläste, Firmensitze mit internationalen Namen.
«Nun paß mal auf. «sagte Fachtmann.»Wir fahren jetzt durch die Emerald-Street. Schön langsam, denn schnell geht's bei dem Verkehr sowieso nicht. Und sieh dich genau um. «Er bog in die Straße ein, die sich kaum von den anderen Straßen dieses Viertels unterschied. Geschäftshäuser, Balkone aus Schmiedeeisen oder geschnitzten Hölzern, Fensterklappläden, Geschäfte mit Markisen, ab und zu ein glattes, neu erbautes Haus mit Firmenschildern aus blitzendem Messing. Um diese Zeit herrschte großes Gedränge auf dem
Gehsteig. An den Straßenrändern standen lange Reihen parkender Autos, zumeist amerikanische und japanische Fabrikate.
«Was ist mit der Emerald-Street?«fragte Mohr.»Ich sehe nichts Besonderes.«
«Ein paar zerlumpte dreckige Gestalten?«
«Ja.«
«Ein paar Männer, die in den Haustüren herumlungern?«
«Was ist da so erstaunlich?«
«Sieh dir die Ganoven genauer an! Alle haben unter den Achseln ausgebeulte Jacketts. Da hängen 38er drin, entsichert! Die EmeraldStreet ist der Umschlagplatz des illegalen Smaragdhandels. Die zerlumpten, ausgedörrten Kerle kommen aus den Bergen. In ihren Taschentüchern eingeknotet, tragen sie ein Vermögen herum. Grüne, glitzernde Steinchen. Und die da herumlungern, das sind die Hehler, die sich die Burschen schnappen, um die Steinchen abzukaufen. Im Auftrag der ganz großen Bosse, die man nie gesehen hat und deren Namen weitgehendst unbekannt sind. Wenn du hier abends als Tourist allein spazierengehst, hast du alle Aussichten, am nächsten Morgen zwischen dicken Kerzen in einer Krankenhauskapelle aufgebahrt zu sein. Hier knallt es jede Nacht! Da nützt dir auch die Rot-Kreuz-Binde nicht und ein Schild vorm Bauch: Me-dico.«
Sie verließen die Emerald-Street und bogen in Richtung Universität ab. Ewald Fachtmann hatte dort im Neubaugebiet mit tropischen Gärten eine weiße Villa gemietet. Standesgemäß unterhielt er drei Mann Personaclass="underline" einen Diener, einen Koch und einen Gärtner. Die Firma bezahlte alles.»Mein ganzes Personal besteht aus entlassenen Gaunern«, lachte er.»Sieh mich nicht so entgeistert an: Das sind die Treuesten! Ich bin ihr neuer Boß, und für den lassen sie sich vierteilen! Die Herdenmentalität: Das Leittier hat immer recht! Das mußt du dir merken, Othello: Du mußt immer das Leittier sein! Die kleinste Schwäche — schon ist ein Vaterunser fällig!«Fachtmann hielt vor einer Bar im Kolonialstil und bremste kühn. Staub wirbelte auf. Aus der Tür des Restaurants stürzten zwei Kellner.»Da hast du's! Sie erkennen mich schon sofort am Bremsen. Jetzt sind sie bereit, Zucker in den Hintern zu blasen.«
«Und das empfindest du als richtig?«fragte Dr. Mohr.
«So kann nur einer fragen, der täglich mit demokratischen und sozialistischen Schlagzeilen gefüttert wird!«Fachtmann stieg aus. Die beiden Kellner verneigten sich wie in einem billigen Theaterstück.»Othello, komm 'raus! Hier saufen wir uns einen auf das Wiedersehen an! Roberto hat den besten Wein und eine Nichte, auf deren Brüsten du Nüsse knacken kannst! Sechs Jahre — das muß gefeiert werden! Bis nach Hause sind's nur ein paar Meter. Und der zuständige Polizist sieht nichts. Er bekommt von mir jede Menge Antibaby-Pillen geschenkt. Der Junge hat einen schwunghaften Handel damit begonnen.«
Später saßen sie im Innenhof, der als Palmengarten angelegt war, in tiefen, bequemen, gepolsterten Korbstühlen, tranken kühlen Wein, aßen eine Tortilla mit Tomaten und Oliven und durften Senorita Pepita, die Nichte mit den Eisenbrüsten, bewundern. Sie trug ein tief ausgeschnittenes spanisches Folklorekleid, das alles ahnen ließ, warf Dr. Mohr einen brennenden Blick zu, servierte den Wein, kicherte ein paar Worte und wippte davon.
«Gewonnen!«sagte Fachtmann fachmännisch.»Othello, du führst dich gleich gut ein! Aber zurück zur Emerald-Street. Diese Straße wird dein Schicksal sein. Wie ich dir schon am Telefon erklärt habe: Wenn du nicht als professioneller Halsabschneider nach Penasblancas, dem wüstesten, aber auch fundreichsten Smaragdort kommst — das heißt, daß du dich vielleicht durchschießen mußt, durch Polizeisperren, Militärkontrollen und Selbstschutztruppen der Schürfer —, sondern als offizieller Helfer der dort vergessenen Menschheit, als heißersehnter Arzt, brauchst du die Fürsprache von Don Alfonso Camargo.«
«Wer ist das?«
«Gottvater selbst. Der große, unbekannte Boß, über dessen Schreibtisch schätzungsweise % aller gestohlenen, geschmuggelten und illegal geschürften Smaragde rieseln. Wenn Don Alfonso >si< sagt, trägst du einen Heiligenschein, sagt er >no<, reserviere dir rechtzeitig einen Liegeplatz auf dem Friedhof. Der große Unbekannte regelt alles.«