Ohne einen Augenblick zu zögern, begann Ben den Rest des ersten Fotos zu übersetzen.
Mein Vater — Dein Großvater, den Du nie kennenlerntest — war Fischer von Beruf. Nachts warf er auf dem See Genezar eth seine Schleppnetze nach Fischschwärmen aus, und tagsüber hängte er seine Netze zum Trocknen auf. Wir waren eine gesegnete Familie — fünf Knaben und vier Mädchen —, und wir alle halfen meinem Vater bei seiner Arbeit.
Hier endete das erste Fragment. Ben prüfte seine Übersetzung nochmals, steckte das Foto in den Umschlag zurück und zog das zweite Teilstück daraus hervor. Er wollte sich eben daranmachen, als das Telefon klingelte.
«Verdammt!«fluchte er leise und knallte seinen Kugelschreiber auf den Tisch.
«Ben, Liebling«, ertönte Angies Stimme,»ich habe darauf gewartet, daß du anrufst.«
«Ich habe heute nachmittag einen weiteren Umschlag von Weatherby erhalten. Eine vollständige Schriftrolle in vier Ausschnitten. Entschuldige, daß ich nicht dazu kam, dich anzurufen. Waren wir etwa verabredet?«
Während sie antwortete, blieben seine Augen an dem ersten Wort des Fotos Nummer zwei haften. Es hieß: Maria.
«Verabredet? Na hör mal, Ben, seit wann brauchen wir eine Verabredung? Paß auf, ich bin eben dabei, einen Braten zu machen.«
«Ich kann nicht, Angie. Nicht heute abend. «Schweigen.
«Es tut mir leid, Liebes, ehrlich. «Und das stimmte. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte Ben daran, die Rollen für eine Weile ruhen zu lassen und sich bei Angie zu entspannen. Ihre Stimme klang wie immer höchst verlockend.»Du fehlst mir, Schatz«, bettelte sie sanft.
Ben seufzte und war schon drauf und dran nachzugeben, als sein Blick erneut den Namen Maria oben auf der Schriftrolle erhaschte.»Wirklich, Angie, ich kann nicht. Ich habe es Weatherby versprochen.«
«Und was ist mit Joe Randall?«Natürlich. Er hatte den Kodex vergessen.
«Und was ist mit mir?«Ihre Stimme klang zart, unwiderstehlich.»Hast du nicht auch mir ein Versprechen gegeben? Ben, du bist den ganzen Tag über an der Uni, und abends übersetzt du. Was bleibt da noch für uns übrig?«
«Es tut mir leid«, wiederholte er kraftlos.»Wirst du noch lange brauchen?«
«Das läßt sich schwer sagen. Wahrscheinlich nicht. Soll ich hinterher zu dir kommen?«
«Das wäre schön. Die Uhrzeit spielt keine Rolle. Brauchst nicht zu hetzen. Ich weiß, wie wichtig die Manuskripte sind. Alles klar?«
«Alles klar. Bis später.«
Er wandte sich dem zweiten Fotoabzug zu. Die erste Zeile lautete: Maria und Sarah und Rahel und Ruth waren meine Schwestern. Die nächsten beiden Abzüge waren im Handumdrehen übersetzt, denn es handelte sich dabei nur um Namenslisten und Familienstammbäume. Drei von Davids Schwestern waren verheiratet und lebten in verschiedenen Teilen von Syria-Palästina. Eine war im Alter von zwölf Jahren an einem Blutsturz gestorben. Seine vier Brüder, allesamt älter, hießen: Moses, Saul, Simon und Judas, in dieser Reihenfolge. Die drei ältesten hatten geheiratet und waren in Magdala geblieben. Judas, der jüngste, war in einem der vielen unberechenbaren Stürme auf dem See ums Leben gekommen.
Wir waren keine arme Familie und dankten Gott jeden Tag für seine Gaben und Segnungen. Mein Vater war ein frommer Mann und befolgte das göttliche Gesetz, wie die besten Juden es tun. Er ging in die Synagoge, um mit den Gelehrten zu sprechen, und las jeden Tag in den heiligen Schriften. Er war kein weltlich gesinnter Mann und lebte nach einer grundlegenden Wahrheit, die besagte:»Denn der Herr behütet den Weg der Gerechten, doch der Weg der Sünder führt in den Abgrund.«
Bens Herz zuckte leicht zusammen. Diese letzten Worte — die er nicht so oft gelesen hatte, wie er sie gehört hatte — klangen für ihn so vertraut, daß er sich im Stuhl zurücklehnen mußte.»Das kann doch wohl nicht wahr sein«, murmelte er ungläubig. Wie lange war es her? Wie viele Jahre waren vergangen, seit er genau diesen Satz zum letzten Mal gehört hatte, diesen Satz, den man ihm immer und immer wieder vorgesagt hatte, so daß er zum ständigen Begleiter seiner Kindheit geworden war? Die Tatsache, daß die Worte nun, nach so vielen Jahren, wieder aus den dunkelsten Winkeln seiner Erinnerung zu ihm drangen, trieb ihm die Tränen in die Augen. Und eine vertraute Stimme, eine, die er längst vergessen hatte, klang nun seltsam fern und doch nahe zugleich an sein Ohr:»Benjy, erinnere dich immer daran, was dein Vater dich gelehrt hat, daß Gott den Weg der Gerechten behütet, und daß der Weg der Sünder in den Abgrund führt.«
Das Lieblingszitat seines Vaters, das dem ersten Psalm entstammte, war den meisten Leuten nicht geläufig. Für Ben aber war es eines der vertrautesten Leitmotive seiner Kindheit gewesen, denn seine Mutter hatte es mindestens einmal am Tag wiederholt. Es war die Grundphilosophie seines Vaters gewesen, und Rosa Messer hatte dafür gesorgt, daß ihr Sohn sich diesen Satz einprägte. Nur daß Ben seit über zwanzig Jahren nicht einen Gedanken an diese Worte verschwendet hatte! Bis jetzt.
Ben Messer blickte mit halb zugekniffenen Augen auf das aramäische Schriftstück, und eine bittersüße Wehmut überkam ihn. Wie erschütternd, gerade jetzt auf genau diese Worte zu stoßen! Wie sonderbar, daß dieser seit Jahrhunderten tote Jude sie nun zu ihm sprach und Erinnerungen an längst vergangene Zeiten in ihm weckte.
Zwei Jonas, der eine war vor zweitausend, der andere vor dreißig Jahren gestorben, und beide hatten sie nach derselben Philosophie gelebt, nach derselben düsteren Warnung aus den Psalmen. Ben starrte eine Weile vor sich hin und dachte an die lange begrabene Erinnerung, die David zufällig ans Tageslicht gebracht hatte. Ben durchlebte sie nur für einen Augenblick, wandte sich dann aber von ihr ab und drängte die Vergangenheit in den Schatten zurück. Ben lächelte wehmütig. Die Erschütterung hatte ihn aus dem Gleichgewicht gebracht und ihn für einen Moment die Arbeit vergessen lassen, die vor ihm lag. Eine Sekunde lang war er das hilflose Opfer von Davids Macht gewesen, der Macht, das Vergangene zurückzubringen. Jetzt schüttelte er den Kopf und zwang sich, die Übersetzung wiederaufzunehmen.
Einmal nahm er uns alle mit nach Jerusalem zum Passahfest, und obwohl er beim Anblick des Tempels und beim Erklingen des Widderhorns Tränen in den Augen hatte, war er doch froh, zu seinem einfachen Leben am Seeufer zurückzukehren. Die Tage meiner Kindheit verliefen unbeschwert und ruhig und wurden nur einmal erschüttert, als ich neun Jahre alt war. Bei demselben Bootsunglück auf dem See, bei dem mein Bruder Judas ums Leben gekommen war, hatte ich mir das Bein gebrochen. Und obgleich es rasch heilte, blieb mir davon ein hinkender Gang zurück, der bis zum heutigen Tag nicht von mir gewichen ist. Als meine Brüder zu Männern herangewachsen waren, traten sie in die Fußstapfen unseres Vaters und wurden Fischer. Nur ich bildete die Ausnahme. Ich glaube, mein Vater hatte sein ganzes Leben lang etwas anderes mit mir, seinem jüngsten Sohn, vorgehabt. Ich ertappte ihn oft dabei, wie er mich bei verschiedenen Gelegenheiten mit einem seltsamen Gesichtsausdruck ansah. Und ich nehme an, daß ich aus diesen nur ihm bekannten Gründen im Alter von dreizehn Jahren von Magdala weggeschickt wurde, um in Jerusalem zu Füßen der Gelehrten zu studieren. Und dies, mein Sohn, ist der Zeitpunkt, an dem alles begann.
Kapitel Vier
Ein lautes, lästiges Klopfen drang an sein Ohr. Er bewegte seinen Kopf vorsichtig hin und her und merkte, daß er schrecklich schmerzte. Das Klopfen hielt noch eine kurze Weile an, dann hörte es auf, und es folgte ein rasselndes, klirrendes Geräusch. Ben stöhnte. Er fühlte sich elend.