«Ich würde es gern für Sie tippen, Dr. Messer. Es wäre mir wirklich eine Freude.«
Er sah den Stolz in ihren tiefbraunen Augen, ihre Unbefangenheit und Aufrichtigkeit und schenkte ihr ein Lächeln. Anders als ihre zufällige Begegnung am Nachmittag war dieses Zusammensein mit Judy Golden recht angenehm. Ben stellte überrascht fest, daß er mit ihr offen über die Schriftrollen sprechen konnte.»Und bedenken Sie den Zeitraum«, fing sie an,»zwischen vierunddreißig und siebzig nach unserer Zeitrechnung! Über was für einen wichtigen historischen Fund Dr. Weatherby da gestolpert ist! Was wohl in den übrigen Rollen noch stehen mag?«Sie schaute auf das Gekritzel auf Bens Notizblätter.»Aber ich frage mich.«
«Was?«
«Ich frage mich, wie er wissen konnte, daß er sterben würde. Ich meine, er scheint ja nicht im Gefängnis zu sein. Ich frage mich, ob er krank ist. Oder glauben Sie. «Sie blickte zu ihm auf.»Könnte er Selbstmord geplant haben?«
Ben schloß seine Augen. O David, war dein Verbrechen so schlimm?
«Dies hier ist interessant. Ich möchte wissen, was es heißt. «Er schlug die Augen auf. Sie deutete auf die untere Hälfte der Seite.
«>. unser Herr an den Toren Jerusalems. <«
«Und hier: >du wirst das Antlitz deines Vaters erblicken<.Dr. Messer, ist es anzunehmen, daß David auf den Messias wartete?«»Schon möglich. «Ben warf einen Blick auf seine Handschrift.»Hätte er vielleicht sogar ein.«
«Sprechen Sie es nicht aus.«
«Warum nicht?«
«Weil es kitschig ist.«
«Warum wäre es kitschig, wenn David ein Christ gewesen wäre?«
«Weil die Chancen dafür einfach zu niedrig sind. Sie wissen doch selbst, daß das erste Jahrhundert von aufkeimenden neuen Religionen und den sonderbarsten Sekten nur so wimmelte. Jesus war zu jener Zeit nicht der einzige, der eine fanatische Jüngerschaft an sich zog. Nur weil er heute von Millionen verehrt wird, heißt das noch lange nicht, daß es damals genauso war.«
«Aber immerhin war David ein Jude, der in Jerusalem lebte.«
«In einer Stadt mit einigen hunderttausend Einwohnern gab es zu dieser Zeit mindestens hundert Sekten. Die Chancen, einen Rechabiten, einen Essener oder einen Zeloten vor sich zu haben, sind genauso groß, wenn nicht größer.«
Judy zuckte die Schulter und las weiter.»Hier ist eine Übereinstimmung. Er ist ein Mitglied aus dem Stamm Benjamins.«
«So?«
Judy hob den Kopf.»Sind Sie nicht ebenfalls Benjaminit?«
«Ich denke nicht, daß meine Familie je wußte, welchem Stamm sie angehörte. Ich glaube, der Vorname Benjamin stammt von einem Onkel, nach dem ich benannt wurde.«
Sie saßen noch eine Weile schweigend da und nippten an ihrem Kaffee, bis Judy schließlich mit einem Blick auf ihre Armbanduhr sagte:»Ich sollte jetzt besser gehen, Dr. Messer.«
Sie erhoben sich und standen sich ein wenig verlegen gegenüber, obgleich keiner von beiden wußte, warum. Ben schaute auf Judy herab und hatte das Gefühl, ihr in dieser
Stunde ganz nah gewesen zu sein, ihr sehr persönliche Dinge gezeigt und etwas mit ihr geteilt zu haben, das er mit niemand anderem teilen konnte. Und der Gedanke daran ließ plötzlich etwas Unbehagen in ihm aufkommen. Als sie zur Tür gingen, sagte sie:»Lassen Sie es mich wissen, falls ich die Tipparbeit für Sie übernehmen soll.«
«Ich werde es nicht vergessen.«
Als er die Tür aufmachte, blieb sie nochmals stehen und blickte mit einem schwachen Lächeln zu ihm auf.»Werden Sie es mir sagen, wenn Sie eine neue Rolle aus Israel bekommen?«
«Natürlich. Sofort, wenn ich sie erhalte.«
Mit diesem Versprechen gingen sie auseinander. Ben schloß hinter ihr die Tür, während er ihre Fußtritte unten im Flur verklingen hörte.
Spontan beschloß er, zu Angie zu gehen und dort die Nacht zu verbringen. Schließlich gab es an diesem Abend ohnehin nichts mehr zu tun, und die Wohnung kam ihm jetzt irgendwie kalt und leer vor. Ben stellte etwas Katzenfutter für Poppäa bereit, die sich für die Dauer des Besuchs zurückgezogen hatte. Dann ging er umher und löschte alle Lichter.
Als sein Blick auf den Schreibtisch fiel, stellte er fest, daß Judy den Kodex vergessen hatte.
Er war eben dabei, den Motor in der Tiefgarage warmlaufen zu lassen, als ein Nachbar — der alleinstehende Berufsmusiker, der eine Tür weiter wohnte — plötzlich vor ihm auftauchte. Er fuchtelte aufgeregt mit den Armen und kam dann zum Fenster auf der Fahrerseite.»Hallo, Nachbar«, grüßte er, während er sich zu Ben herunterbeugte,»wie geht’s, wie steht’s?«
«Alles in Ordnung. Ich hab Sie in letzter Zeit gar nicht mehr gesehen.«
«Ich war auch nicht da. Ich bin erst heute morgen zurückgekommen. Hören Sie, ich war gerade auf dem Sprung, als ich Sie hier sah, und da sagte ich mir, jetzt mußt du die
Gelegenheit beim Schopf fassen. «Er kramte in seiner Jackentasche und zog einen kleinen gelben Zettel daraus hervor.»Das habe ich heute abend in meinem Briefkasten gefunden. Der Briefträger hat es wohl versehentlich hineingesteckt. Es ist für Sie.«
«Oh. «Ben nahm den Zettel und betrachtete ihn.»Ich dachte, es könnte ja wichtig sein«, fuhr der Nachbar fort.»Der Briefträger muß heute nachmittag mit einem Einschreiben vorbeigekommen sein, und Sie waren nicht zu Hause. Auf dem Zettel steht, Sie können es morgen zwischen neun und fünf auf der Post abholen.«
«Ja, haben Sie vielen Dank.«
«Nichts zu danken. «Der Musiker richtete sich auf, winkte beiläufig und schlenderte fort.
Ben starrte auf den Absender, der auf dem gelben Streifen angegeben war.
Jerusalem.
Kapitel Fünf
Die erste Unterrichtsstunde ging ziemlich schnell vorbei, da sie völlig mit Übungen in alten Schriften ausgefüllt war. Ben fand stets Vergnügen an den Herausforderungen von Hieroglyphik und Keilschrift, und die Sprachen der Archäologie waren sein Lieblingsfach. Das Seminar am Nachmittag verlief indessen nicht so gut. Ben hatte keine Gelegenheit gehabt, sein Einschreiben auf der Post abzuholen, weil er zwischen den beiden Unterrichtsstunden noch andere Aufgaben auf dem Campus zu verrichten hatte. Außerdem befürchtete er, zu spät zu kommen oder wegen seiner jüngsten Versäumnisse den Eindruck zu erwecken, er nähme seine Pflichten als Dozent auf die leichte Schulter. Da Alt- und Neuhebräisch ein zweistündiges Unterrichtsfach war, bei dem häufig über die Zeit hinaus diskutiert wurde, war Ben besonders darauf bedacht, den Saal pünktlich zu verlassen. Das heutige Thema lautete» Die Sprache der Aschkenasim«, und wie der Zufall es wollte, schienen sich die Kursteilnehmer sehr dafür zu interessieren und beteiligten sich eifrig an der Diskussion. Bens Unruhe verstärkte sich noch durch die Anwesenheit von Judy Golden, die ihn, obwohl sie selten zu ihm aufblickte und kaum sprach, ganz aus dem Konzept brachte.
Sie war meistens über einen Schreibblock gebeugt und schrieb Stichpunkte mit. Seit ihrer Unterhaltung am Abend zuvor, bei der sie David Ben Jonas Geheimnis für kurze Zeit geteilt hatten, war sie ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Er konnte den Gedanken an sie nicht abschütteln und fand keine Erklärung dafür.»Dr. Messer, meinen Sie, daß die
Wiederbelebung des Hebräischen bei der Verdrängung des Jiddischen eine Rolle gespielt haben könnte?«
Er schaute den Studenten an, der die Frage gestellt hatte. Bevor Ben jedoch antworten konnte, entgegnete schon ein anderer Student:»Du gehst einfach von der Annahme aus, daß die jiddische Sprache zurückgedrängt wird. Diese Auffassung teile ich ganz und gar nicht.«
Die Worte verschwammen, während Ben wieder seinen Gedanken nachhing. Ja, Judy Goldens Gegenwart berührte ihn aus irgendeinem Grund. Sie hatte Davids Bericht gelesen, sie war in das Geheimnis der magdalenischen Schriftrollen eingeweiht. Sie wußte ebensoviel über David wie Ben, und hierin lag möglicherweise das Problem: Judy war nun keine Außenstehende mehr. Sie hatte seine eigenen Erfahrungen mit den Schriftrollen geteilt. Die Gedanken daran stürmten wieder auf ihn ein: das schreckliche Verbrechen, das David begangen hatte, das schmerzliche Bedürfnis, zu beichten, das im ersten Psalm enthaltene Lebensprinzip seines Vaters, der Fluch Mose und der schreckliche Umstand, daß Davids Sohn die Rollen niemals gefunden hatte.