Nachdem Judy Golden sich am Abend zuvor verabschiedet hatte, war Ben zu Angie gefahren. Sie hatten etwas Exotisches gegessen, sich einen Film im Kabelfernsehen angeschaut, sich zweimal geliebt und am Morgen den Wecker überhört. Und während der ganzen Nacht war Ben imstande gewesen, nicht an die Rollen zu denken. Er war so mit Angie beschäftigt gewesen, daß er David Ben Jona für einige Zeit vergessen hatte und schließlich in einen tiefen, traumlosen Schlaf gesunken war.
Doch jetzt, da er Judy Golden über ihre Arbeit gebeugt dasitzen sah und wußte, daß ein weiterer Brief von Weatherby im Postamt auf ihn wartete, konnte Ben es nicht verhindern, daß sich wieder Bilder von Magdala bei ihm einschlichen.
Er schaute auf die Uhr. Es war vier, und alles deutete darauf hin, daß sich der Unterricht noch eine ganze Weile hinziehen würde. Geduldig räumte er seinen Studenten noch fünfzehn Minuten ein, in denen er Fragen beantwortete, Vergleiche zwischen Hebräisch und Jiddisch an die Tafel schrieb und versuchte, irgendwie zu einem Abschluß zu gelangen.
«Ich denke, wir haben das Thema erschöpfend behandelt«, meinte er schließlich, wobei er zwei weiteren Wortmeldungen einfach keine Beachtung mehr schenkte. Es war Viertel nach vier. Er würde mindestens zwanzig Minuten brauchen, um den Campus zu verlassen und zur Post zu gelangen — eine halbe Stunde, wenn auf den Straßen starker Verkehr herrschte. Der zeitliche Spielraum war zu knapp, als daß Ben sich noch länger aufhalten konnte.»Wenn Sie noch weitere Fragen haben, können wir sie am Freitag aufgreifen.«
Er beobachtete Judy Golden, die über ihrem Schreibblock gebeugt immer noch weiterschrieb. Eine Sekunde lang fragte er sich, was sie da so stark beschäftigte und ob es ihr wohl schwergefallen war, nicht mehr an David Ben Jona zu denken. Doch im nächsten Augenblick wies er diese Gedanken von sich. Tags zuvor hatte er ihr versprochen, sie über die Schriftrollen auf dem laufenden zu halten und es ihr mitzuteilen, wenn weitere Manuskripte einträfen. Er beschloß nun, sein Versprechen nicht einzulösen.
Ben raffte Pfeife und Aktentasche zusammen und verließ hastig den Seminarraum. Er war noch nicht weit gekommen, da wurde er auf dem Flur von Stan Freeman, einem langjährigen Freund und Professor für Altertumswissenschaft, aufgehalten. Ihre Fachgebiete waren miteinander verwandt, sie waren im gleichen Alter und hatten andere gemeinsame Interessen. Die wenigen Male, die Ben in die Berge zum Fischen gefahren war, war er mit Stan gefahren.»Hallo!«rief sein Freund begeistert.»Hab dich lange nicht gesehen! Was treibst du denn die ganze Zeit?«
«Wie gewöhnlich nichts Gutes, Stan.«
«Ich hab dich nicht gerade oft gesehen in letzter Zeit. Hält Angie dich auf Trab?«
«Nun ja, ich habe außerdem einen ägyptischen Kodex zu übersetzen.«
«Im Ernst! Den würde ich mir gerne mal ansehen. «Stan wartete darauf, daß Ben etwas entgegnete. Doch als dieser nichts erwiderte, fügte er mit einem kurzen Lachen hinzu:»Wie ich sehe, wirst du langsam zum Verfechter eines unkonventionellen Lebensstils!«
«Was?«
Stan deutete nach unten.»Die Sandalen. Weißt du, in all den Jahren, die wir beide befreundet sind, habe ich dich niemals in Sandalen gesehen. Du hast immer gesagt, Sandalen hätten etwas von gewolltem Künstlergehabe an sich. Wenn ich mich recht erinnere, hattest du in der Tat eine wahre Abneigung dagegen. Diese hier gefallen mir. Wo hast du sie her?«
Ben sah auf seine Füße. Die Sandalen hatte er heute morgen gekauft. Sie bestanden aus einer groben Ledersohle und Riemen und wirkten etwas derb und urtümlich.»Ich habe sie in Westwood gekauft. Ich wollte mal was anderes. «Etwas gereizt dachte Ben: Was ist denn eigentlich dabei, wenn ich jetzt plötzlich Sandalen trage? In diesem Augenblick kam Judy Golden vorüber, mit einer ganzen Ladung Bücher unter dem Arm, und verschwand um die Ecke.»Hör zu Stan. Ich bin in großer Eile. «Ben versuchte, sich von ihm loszumachen.
«Oh, natürlich. Sag, wann ist der große Tag?«
«Was für ein großer Tag?«
«Die Hochzeit! Du und Angie. Erinnerst du dich?«
«Oh. In den Semesterferien. Ich werd’s dich schon rechtzeitig wissen lassen. Wenn du dich geschickt anstellst, kannst du mein Trauzeuge werden. «Ben hatte in der letzten Sekunde beschlossen, Judy Golden einzuholen und ihr den Kodex zu geben, an den er diesmal gedacht hatte. Er wollte ihn ihr jetzt, hier auf dem Campus geben und ihr auf diese Weise jede mögliche Entschuldigung für einen späteren Besuch in seiner Wohnung nehmen.»Ich muß wirklich gehen, Stan. Ich ruf dich an. Okay?«
«Klar doch. Bis bald.«
Jetzt, am späten Nachmittag, war der Andrang auf den Fluren ziemlich groß, und so mußte Ben sich durch die Menschenmenge zum Ausgang kämpfen. Als er nach draußen in die untergehende Sonne trat, sah er Judy mit schnellem Schritt in Richtung Bibliothek eilen. Er schaute auf die Uhr. Vier Uhr fünfundzwanzig. Er hatte noch etwas Zeit.
«Judy!«rief er, während er seinen Schritt beschleunigte, um sie einzuholen.
Sie schien ihn nicht zu hören. Für eine Person ihrer Größe lief sie bemerkenswert schnell, wobei ihr schwarzes Haar hinter ihr im Wind wehte.»Judy!«
Endlich schaute sie über ihre Schulter. Sie blieb stehen und drehte sich nach ihm um.
«Ich vergaß, Ihnen heute im Unterricht dies hier zu geben«, sagte er, während er ungeschickt an dem Verschluß seiner Aktentasche herumnestelte.»Sie haben es gestern abend liegengelassen. «Sie schaute ihm ins Gesicht.
«Hier. «Er zog den großen braunen Umschlag hervor und reichte ihn ihr. Sie nahm ihn entgegen, ohne ihren Blick abzuwenden.»Oh, der Kodex. Vielen Dank. «Ben bedachte sie mit einem halbherzigen Lächeln. Ich werd ihr nichts sagen, dachte er bei sich. Wir lassen es einfach bei gestern abend bewenden und bringen nie wieder die Sprache auf die Schriftrollen.»Ich hätte ihn gerne in etwa einer Woche zurück, wenn Sie nichts dagegen haben. Die letzten paar Zeilen sind verdammt schwer zu übersetzen, und ich habe mich auf einen bestimmten Abgabetermin festgelegt.«
«Oh, natürlich. «Sie schien unschlüssig.»Dr. Messer, darf ich etwas sagen?«
Er steckte sich seine kalte Pfeife in den Mund.»Nur zu.«
«Ich teile nicht Ihre Ansicht, daß Jiddisch im Aussterben begriffen ist. Vielleicht wird es heute weniger gebraucht, und vielleicht hat sich sein Stellenwert im Leben der Juden geändert, aber ich denke nicht, daß es ausstirbt.«
Ben blickte das Mädchen erstaunt an und lächelte.»Diese Meinung kann man natürlich mit guten Argumenten vertreten. Wahrscheinlich könnte uns nur eine weltweite Studie die richtige Antwort darauf geben, und bis es soweit ist, können wir nur Vermutungen anstellen. Ihre Einschätzung ist ebenso gut wie meine.«
Sie nickte.»Ich bin mit Jiddisch aufgewachsen. Es war die einzige Sprache, die meine Mutter wirklich beherrschte. Als ich klein war, sprachen wir zu Hause ausschließlich Jiddisch. Vielleicht hat es für mich deshalb so hohen Wert. Nun ja, jedenfalls vielen Dank, daß Sie an den Kodex gedacht haben.«
«Gewiß. «Ben beobachtete sie, wie sie ihm zuwinkte und sich zum Gehen wandte. Dann, einer plötzlichen Regung folgend, sagte er:»Ach übrigens.«
«Ja?«
«Ich habe anscheinend eine neue Rolle aus Magdala erhalten.«
Der Wein in seinem Glas war warm und bitter geworden. Bachs Toccata und Fuge in d-moll kam aus dem Plattenspieler wie eine Folge mißklingender Töne. Der Qualm aus seiner Pfeife hing in dicken, ungesunden Rauchwolken in der Luft. Ben stand ungeduldig auf, stellte den Plattenspieler ab, entleerte seine Pfeife in den Aschenbecher und kippte den Wein in die Spüle. Dann kehrte er an seinen Schreibtisch zurück und setzte sich wieder.