Der Nachgeschmack von einem Pastrami-Sandwich lag ihm noch auf der Zunge und erinnerte ihn daran, daß er sein Abendessen weniger genossen als in sich hineingestopft hatte, wie eine lästige Pflicht, die er sich vom Hals schaffen sollte. Genauso hatte er es auch empfunden. Ben war hungrig gewesen, hatte sich aber auch nicht weiter mit Essen abgeben wollen. Und jetzt, mit einem Klumpen im Magen und einem schlechten Geschmack im Mund, reute es ihn, daß er so hastig gewesen war.
Wieder blickte er im Schein der Schreibtischlampe auf die ihm schon vertraute fehlerhafte Maschinenschrift Dr. Weatherbys. Der Begleitbrief bestand aus einem kurzen Kommentar zu Rolle Nummer vier, die er in schlechtem Zustand gefunden hatte und die man unter Infrarotlicht hatte fotografieren müssen, um die Schrift sichtbar zu machen. Er erwähnte auch, wie schon zuvor am Telefon, Rolle Nummer drei, die wegen eines Sprunges im Tonkrug unbrauchbar geworden war. Das war alles.
Ben schüttelte traurig den Kopf, als er die beiden vor ihm liegenden Fotos betrachtete. Diese Übersetzung würde wirklich eine Herausforderung darstellen. Die Ecken sahen aus, als seien wilde Hunde darüber hergefallen. Und in der Mitte erinnerte die Rolle an Schweizer Käse. Ganze Absätze waren völlig verschwunden, viele Wörter bis zur Unkenntlichkeit entstellt.
Ben fühlte sich persönlich betrogen, als sei ihm dies absichtlich angetan worden. Zuerst der unwiederbringliche Verlust der dritten Rolle und nun noch dies.
Wütend schlug er mit der Faust auf den Schreibtisch. Irgendwo im Halbdunkel lauerte Poppäa Sabina, die den ganzen Tag geschlafen hatte und nun zu ihren nächtlichen Runden aufbrach. Sie wußte, wann ihr Herrchen seine Ruhe brauchte, und hielt sich daher in diskreter Entfernung zu ihm. Der Lärm von dem Faustschlag scheuchte sie ins Schlafzimmer, wo sie eine einsame Nachtwache antrat.»David Ben Jona«, murmelte Ben über dem Foto,»wenn du willst, daß ich deine Worte lese, wenn du mich dazu auserwählt hast, die Beichte zu lesen, die dein Sohn nicht hatte lesen können, dann mache es mir doch nicht gar so schwer.«
Er stand auf und ging in die Küche, um sich ein frisches Glas Wein zu holen, kam dann zurück zum Schreibtisch, zündete seine Pfeife wieder an und machte sich an die mühsame Übersetzung von Rolle Nummer vier.
Und so kam es, daß ich, David Ben Jona, im Alter von vierzehn Jahren mein Studium bei Rabbi Joseph Ben Simon vollendete. Jene drei Jahre waren eine gute Zeit gewesen, und ich werde stets in liebevollem Andenken an diese Tage der Jugend und Unschuld zurückblicken. Saul blieb mein innigster Freund, und so kam es, daß er und ich zusammen bei Rabbi Eleasar Ben Azariah in die Lehre gehen wollten, der damals einer der berühmtesten und erhabensten Lehrer war.
Dieser Teil war überraschend gut gegangen. Doch nach genauerer Untersuchung war er offensichtlich von beiden Fotos der leserlichste Abschnitt. Der Rest würde nicht so einfach werden. An den Rändern seiner Übersetzung machte Ben einige Anmerkungen: Rolle drei offensichtlich
Beschreibung von frühem Schulbesuch und ersten Jahren in Jerusalem. David unter der Anleitung von Rabbi Joseph, wahrscheinlich zusammen mit mehreren anderen Jungen. Gegenstand der Unterweisung kann nur vermutet werden — wahrscheinlich Aufsagen der Thora, Gedächtnistraining,
Gebete etc. Bezweifle, daß er irgendeine Deutung der Gebote besaß. Wahrscheinlich die übliche Ausbildung der Jugend aus der Mittelschicht. Freund Saul wahrscheinlich schon in Rolle drei erwähnt und Umstände ihrer Begegnung geschildert.
Ben ließ seinen Kugelschreiber sinken und rieb sich die Augen. Der Verlust der dritten Rolle war in der Tat sehr ärgerlich. Und die Lücken, die in dieser hier überall auftauchten, konnten einen ebenfalls zur Verzweiflung
bringen. Er war ungehalten und gereizt. Er stand auf und trat zum Fenster. Irgend etwas störte ihn. Sonst war er ein Mann, der sich an die Arbeit setzte und sofort damit begann, aber heute abend war daran nicht zu denken. Er konnte Davids
Worte nicht lesen, ohne unruhig und nervös zu werden. Dann kam ihm Judy Golden in den Sinn. Warum war er so vorschnell mit der Nachricht von der vierten Rolle herausgeplatzt, besonders nachdem er sich geschworen hatte, ihr nichts davon zu erzählen? Gewiß, sie hatte ihn nicht dazu gedrängt. Er war ja sogar derjenige gewesen, der ihr nachgerannt war, um sie für eine Minute zurückzuhalten. Warum hatte er ihr aber schließlich, als sie sich schon zum Gehen wandte, doch gesagt, daß er eine weitere Rolle erhalten hatte? Ben ging eine Zeitlang mit leicht hinkendem Schritt im Zimmer auf und ab. Auch etwas anderes beschäftigte ihn. Er wurde viel zu schnell ungeduldig, wenn er auf das Eintreffen künftiger Rollen wartete. Es regte ihn auf, daß es so lange dauerte, bis sie zu ihm gelangten. Und er beneidete John Weatherby darum, auf dem Schauplatz der Ereignisse zu sein und die Tonkrüge gerade so zu finden, wie David Ben Jona sie hinterlassen hatte.
Bens Überlegungen wurden durch das Klingeln des Telefons unterbrochen, das er zuerst nicht beachten wollte. Dann nahm er aber doch ab.
«Hallo, Liebling«, ertönte Angies sanfte Stimme.»Störe ich dich bei irgend etwas?«
«Ich war gerade mitten in einer neuen Übersetzung.«
«Oh!«
«Ich habe heute die vierte Rolle von Weatherby erhalten. Es ist eine besonders schwere.«
Angie lachte kurz auf.»Ich weiß nicht, ob ich mich für dich freuen oder dich bedauern soll.«
«Warum?«
«Mich für dich freuen, daß du eine neue Rolle hast, oder aber dich bedauern, weil es eine schwierige ist. «Sie zögerte.»Ben?«
«Ja?«
«Du klingst so kühl. Ist alles in Ordnung?«
«Mir geht’s gut. Ich denke nur gerade nach.«
«Willst du herüberkommen?«
«Nicht heute abend. Ich bin mittendrin und will es zu Ende bringen.«
«Natürlich«, murmelte sie,»ich verstehe. Trotzdem, wenn du Hunger bekommst oder dich einsam fühlst. Ich bin hier.«
«Danke. «Er wollte ihr eben auf Wiedersehen sagen, doch im letzten Augenblick überlegte er es sich anders und fragte:»Angie?«
«Ja, Liebling.«
«Willst du nicht wissen, wovon die vierte Rolle handelt?«Am anderen Ende der Leitung herrschte Stillschweigen.»Nun ja, egal«, fuhr er fort,»sie ist sowieso ziemlich langweilig, erzählt nur von David Ben Jonas Lehrzeit in Jerusalem. Gute Nacht, Angie.«
Mit dem Zeigefinger drückte er die Gabel nach unten, während er gleichzeitig horchte, um sicherzugehen, daß die Verbindung unterbrochen war. Und dann tat Benjamin Messer etwas, was er nie zuvor in seinem Leben getan hatte: Er legte den Hörer neben die Gabel.
Schriftgelehrte. Wir wußten, daß es uns Jahre harter Arbeit und viele Opfer abverlangen würde und daß nur eine Handvoll ihr Ziel je erreichten. Saul und ich wählten Rabbi Eleasar. den größten Lehrer in Judäa. (Tinte verwischt)… sein Ruhm. Wir strebten nach dem Allerhöchsten. Wir wußten, daß wir, sollten wir die Lehrzeit bei ihm durchstehen, Männer von hohem Ansehen sein würden.
Doch so viele junge Männer traten an ihn heran, und so wenige wurden auserwählt. Saul und ich waren fest entschlossen. Es würde meiner Familie zu größter Ehre gereichen, sollte es mir gelingen, ein Schüler des großen Eleasar zu werden. Ich war voller Furcht zu versagen. Ich kannte viele Knaben, die an Eleasar herangetreten und abgelehnt worden waren. Doch Saul war zuversichtlich. Saul. stolzer und fröhlicher Knabe mit lachenden Augen und. Mund. Er versicherte mir tagtäglich, daß wir die besten Schüler von Rabbi Joseph gewesen seien. Und das ermutigte mich. Wenn ich indessen hörte, wie viele Eleasar um Unterweisung angingen, wurde ich wieder ganz niedergeschlagen. Aus diesem Grund. (große Lücke im Papyrus). mit Saul. Zum Passah-Fest kamen wir. (Handschrift unleserlich). und ich lag ängstlich bis spät in die Nacht hinein wach.