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Aber Saul schien sich nicht zu fürchten. Er hatte auch viele Freunde, denn er besaß die Fähigkeit, lustige Geschichten zu erzählen und die Leute zum Lachen zu bringen. Ich bewunderte Sauls geistreichen Witz und sein sorgloses Wesen, und ich wünschte mir oft, ebenso gesellig und freimütig zu sein wie er und schnell Freunde zu gewinnen. Wir gingen oft zusammen. (Papyrus zerrissen)… und beteten gemeinsam im Tempel. Saul und ich waren uns näher, als meine Brüder und ich es gewesen waren, und wir halfen uns gegenseitig, wo wir konnten. In Jerusalem war er mein einziger Freund, und ich liebte ihn innig. Hätte sich die Gelegenheit je geboten, ich hätte mit Freuden mein Leben für Saul hingegeben.

Als er am Ende des ersten Fotos angelangt war, nahm Benjamin seine Brille ab, legte sie sachte auf die Schreibtischplatte und rieb sich die Augen. Dann starrte er auf die aramäische Handschrift, die unter dem Infrarotlicht nur undeutlich hervorgekommen war, und fühlte sich plötzlich um Jahre zurückversetzt, an eine Schule in New York City, die er besucht hatte und wo er eng mit einem Jungen namens Salomon Liebowitz befreundet gewesen war.

Die Jeschiwa, die Talmudschule, hatte sich im Stadtteil Brooklyn befunden. Er war vierzehn Jahre alt gewesen, als er sich, beladen mit Büchern in Hebräisch und Jiddisch, mühsam einen Weg durch den matschigen Schnee bahnte. Er und Salomon machten immer einen weiten Bogen, um zur Jeschiwa zu gelangen, denn der direkte Weg führte durch ein katholisches Nachbarviertel, wo ihnen immer einige rüpelhafte Jugendliche auflauerten, um sie zu schikanieren. Einmal hatten die grobschlächtigen Söhne polnischer Einwanderer Bens Samtkäppchen geschnappt, es auf den Boden geworfen und waren darauf herumgetrampelt. Und dann hatten sie über seine Tränen gelacht.

Aber es waren keine Tränen der Trauer oder der Wut gewesen, sondern Tränen der Ohnmacht. Woher hätten die Gojim, die Nichtjuden, auch wissen sollen, wie sehr Ben sich wünschte, das Haus ohne sein Käppchen verlassen zu können, und wie sehr er sich danach sehnte, in die öffentliche Schule zu gehen, wo er wie andere Kinder hätte sein können.

Und einmal hatte Salomon, der so viel größer und stämmiger war als Ben, Ben verteidigt und den halbstarken Gojim die Nasen blutig geschlagen. Im Wegrennen hatten die Polen ihnen über die Schulter nachgerufen:»Wir werden’s euch schon zeigen, ihr Jesusmörder! Wir werden’s euch zeigen!«

Und so hatten Ben und Salomon von da an den längeren Weg zur Jeschiwa genommen.

Ben fühlte einen Kloß im Hals. Er rückte ein wenig vom Schreibtisch weg und schaute auf seine Hände. Seit vielen Jahren hatte er nicht mehr an Salomon Liebowitz gedacht. Ihre Verbindung war abgebrochen, als Ben von New York nach Kalifornien gezogen war und Salomon den Entschluß gefaßt hatte, Rabbiner zu werden. Sieben Jahre lang waren sie die besten Freunde gewesen, und Ben hatte Salomon wie einen Bruder geliebt und die meiste Zeit mit ihm verbracht.

Doch dann war der Augenblick der Trennung gekommen — der Augenblick, da es galt, als Erwachsene Entscheidungen zu treffen und den Weg von reifen Männern zu gehen. Ihre Kindheit war zu Ende. Salomon Liebowitz und Benjamin Messer konnten ihre Abenteuer in den Straßen von Brooklyn nicht länger wie zwei Glücksritter fortsetzen. Jetzt war die Zeit gekommen, der Wirklichkeit ins Auge zu schauen.

Ben hatte sich für die Wissenschaft und Salomon für Gott entschieden.

Ein schüchternes Pochen drang von der Tür an sein Ohr, so leise, daß Ben es zuerst nicht hörte. Dann blickte er in die Richtung, aus der das Geräusch kam, doch Poppäa Sabina, die manchmal an der Tür kratzte, war nirgends zu sehen. Als das Pochen etwas lauter wurde, erkannte Ben, daß jemand an der Tür klopfte.

Er warf einen Blick auf das abgehängte Telefon und fluchte leise, weil er Angie für den Störenfried hielt.

Seufzend fügte er sich in sein Schicksal und öffnete die Tür. Zu seiner Überraschung sah er Judy Golden davor stehen. Eine Tasche hing ihr über die Schulter. In der Hand hielt sie einen großen braunen Umschlag.

«Hallo, Dr. Messer«, grüßte sie lächelnd,»ich hoffe, ich störe Sie nicht.«

«Nun, um ehrlich zu sein, das tun Sie. Womit kann ich Ihnen dienen?«

Wortlos hielt sie ihm den Umschlag entgegen.»So rasch?«wunderte er sich und runzelte die Stirn.»Sie können ihn doch nicht länger als zwei Stunden gehabt haben.«

«Vier Stunden, Dr. Messer. Es ist nach acht.«

«Ach wirklich?«

«Und ich. «Sie schien seltsam zurückhaltend.»Ich habe hin und her überlegt, ob ich herkommen oder bis zur Freitagsstunde warten sollte. Aber ich möchte den Kodex so gerne lesen, und Sie hatten erwähnt, daß Sie ihn zu einem bestimmten Termin zurückgeben müßten. Deshalb bin ich hierher gekommen.«

«Ich verstehe nicht.«

Sie hielt ihm den Umschlag hin.»Er ist leer.«

«Was!«Ben riß ihn auf und traute seinen Augen nicht.»Ach, um Gottes willen! Kommen Sie herein, kommen Sie!«

Judy lächelte und verlor allmählich ihre Anspannung.»Ich will Sie wirklich nicht belästigen, aber ich.«

«Ich weiß«, schnitt er ihr das Wort ab. Ben lief schnurstracks ins Arbeitszimmer und warf einen prüfenden Blick auf das beständig anwachsende Durcheinander. Texte alter aramäischer Schriftrollen, hebräische Apokryphen und Bücher über semitische Handschriften lagen überall verstreut herum inmitten von Pastrami-Krümeln, einer ausgetrockneten Gurkenschale, einer schalen Pfeife und drei halbleeren Gläsern Wein. Typische Junggesellenhöhle, dachte er, während er versuchte, sich zu erinnern, wo er den Kodex zuletzt gesehen hatte. Dieses Mädchen muß denken, daß ich ein richtiger Schlamper bin.»Bin gleich wieder bei Ihnen«, murmelte er, während er seine Bücher hochhob. Einige waren aufgeschlagen und zeigten Fotos von vergilbten Papyrusstücken, Verzeichnisse und Tabellen mit alphabetischen Vergleichen oder lange Texte. Alles Hilfsmittel, mit denen er David Ben Jonas Schriftrollen die feinsten Wortbedeutungen entlocken konnte.

Während er seine Stapel durchsuchte, betrachtete Judy die beiden Fotografien, die auf dem Schreibtisch neben Bens Schmierblock ausgebreitet waren. Das müssen die neuen Rollen sein, dachte sie aufgeregt und trat unauffällig näher heran.

Doch urplötzlich drehte sich Ben um, riß verärgert die Arme hoch und meinte:»Ich werde die ganze Nacht brauchen, um mich in diesem Durcheinander zurechtzufinden. «Er hielt inne, als er sie bei den Fotos sah.

«Ist schon in Ordnung«, erwiderte sie rasch.»Ich kann warten. Es tut mir leid, daß ich Sie gestört habe.«

Der Raum war völlig dunkel bis auf den kleinen Lichtkreis seiner Schreibtischlampe. Als Ben im Halbdunkel Judy Goldens Gesicht betrachtete, wünschte er sich, es möge ein wenig heller sein, damit er ihren Gesichtsausdruck erkennen könnte.

Plötzlich begriff er, warum sie wirklich gekommen war, und er sagte:»Sie hätten wirklich bis Freitag warten können. Oder Sie hätten mit mir nach meinem Zehn-Uhr-Kurs morgen früh sprechen können. Oder aber eine Nachricht in meinem Büro hinterlassen können.«

«Ja«, gab sie kleinlaut zu,»ich weiß.«

Ben schaute auf die Fotos von Rolle Nummer vier.»Diese hier ist nicht ebenso gut erhalten wie die ersten zwei«, stellte er sachlich fest.

«Weatherby schreibt, das Dach des alten Hauses müsse wohl vor Jahrhunderten eingestürzt sein und dabei einige der Rollen beschädigt haben. Wenn erst einmal die Außenluft damit in Berührung kommt, verwandelt sich Papyrus, wie Sie wissen, in eine klebrige, teerige Substanz, mit der sich nichts mehr anfangen läßt. Rolle Nummer drei ging auf diese Weise gänzlich verloren. «Judy zögerte und schien ihre Worte genau abzuwägen.»Dr. Messer?«

«Ja?«

«Was steht darin?«

Er schaute dem Mädchen wieder ins Gesicht; die blasse Haut, die großen, dunklen Augen und das lange, schwarze Haar. Sie war nicht so schön wie Angie, doch ihr Gesicht hatte etwas, was Angie fehlte, eine Eigenschaft, die Ben gefiel. Doch wußte er nicht, was genau es war.