Es kamen ihm auch andere Bilder, die weniger heiter waren als die von der Jeschiwa und von Salomon. Es waren Momentaufnahmen von seiner Kindheit in Deutschland, von seiner Auswanderung in die Vereinigten Staaten, von der schmerzvollen Zeit seines Heranwachsens unter der Obhut seiner Mutter.
Ben hatte keine Geschwister gehabt. Und auch keinen Vater. Soweit er sich zurückerinnern konnte, waren da immer nur er selbst und seine Mutter gewesen. Und seine Mutter — sein einziger Elternteil und seine einzige Bezugsperson — war ein schwieriger Mensch gewesen.
Dann flackerte ein anderes Bild kurz in seinem Gedächtnis auf: das Handgelenk seiner Mutter. Irgend etwas stimmte damit nicht. Sie trug immer lange Ärmel, um es zu verbergen. Doch einmal hatte er es zu Gesicht bekommen. Er hatte darauf gedeutet und gefragt:»Was ist das, Mama?«
Ein Ausdruck des Entsetzens war über das Gesicht seiner Mutter gehuscht. Sie hatte schnell ihre Hand über die Verstümmelung gelegt und war aus dem Zimmer gestürzt. Und sie hatte noch Stunden danach und lange in die Nacht hinein geweint.
Als Ben dreizehn Jahre alt war, hatte seine Mutter am Tag seiner Bar-Mizwa, als er in die jüdische Glaubensgemeinschaft eingeführt wurde, ihren Ärmel aufgerollt, um ihm ihr
Handgelenk zu zeigen.»Weil du nun ein Mann bist«, hatte sie ihm in Jiddisch gesagt.»Weil du jetzt über solche Dinge Bescheid wissen solltest. «Und sie hatte ihm die fleckigen Narben gezeigt, die von den Bissen wilder Hunde an einem Ort namens Majdanek herrührten.
Als das Telefon klingelte, sprang Ben mit einem Satz auf und vertrieb Poppäa von seinem Schoß. Er taumelte auf steifen Beinen zum Telefon und rieb sich das Gesicht, bevor er abnahm. Überrascht bemerkte er, daß ihm eine Träne über die Wange lief.»Hallo, Schatz! Nun, wie lautet der Urteilsspruch?«Für einen Moment wußte er nicht, wer am Apparat war, doch dann antwortete er schwerfällig:»Keine Rolle, Angie.«
«O toll!«freute sie sich.»Dann also San Diego?«
«Na ja. San Diego. Aber erst morgen früh. Jetzt bin ich zu müde.«
«Großartig. Bis morgen also. Tschüß, Liebling. «Seine Lippen formten das Wort» Auf Wiedersehen«, aber seine Stimme versagte ihm. Ben stand lange am Telefon und starrte vor sich hin wie unter Hypnose. Dann kam er langsam wieder zu sich und erkannte, daß er eine Zeitlang auf der Couch geschlafen haben mußte. Es war fast sieben Uhr abends.
Im Augenblick wollte er nur eines, und zwar diese Erinnerungen aus seinem Gedächtnis vertreiben. Den Schrecken und die Qual des Konzentrationslagers vergessen. Die Trübsal seiner Kindheit wegwischen. Und Rabbi Salomon Liebowitz hinter die verschlossene Tür zurückdrängen. Es war nicht gut, die Vergangenheit wieder auszugraben. Es machte einen nur unglücklich und trieb einem die Tränen in die Augen.
Er schaltete eine Menge Lichter an und legte eine BeethovenPlatte auf. So gelang es ihm, die Schwermut und die Stille ein wenig zu vertreiben. Als er die Gedanken an die Gesichter von seiner Mutter und Salomon Liebowitz jedoch nicht verdrängen konnte, wurde ihm bewußt, daß er den Abend nicht allein verbringen wollte. Er wählte die drei ersten Ziffern von Angies Nummer, legte dann aber wieder auf. Er dachte einen Augenblick nach und holte schließlich auf gut Glück das Telefonbuch hervor, um nachzusehen, ob sie darin aufgeführt war. Überraschenderweise fand er sie. Das heißt, wenn die Judith Golden aus dem Telefonbuch die war, nach der er suchte.»Hallo?«
«Judy? Hier ist Ben Messer.«
«Ach, hallo, wie geht es Ihnen?«
«Prima. Hören Sie, ich weiß, es ist Samstagabend, und wahrscheinlich haben Sie schon etwas vor. Aber ich könnte Ihre Hilfe gebrauchen.«
Sie antwortete nichts.
«Es geht um die Schriftrollen«, fuhr er weniger zuversichtlich fort.»Weatherby hat mich um einen Tätigkeitsbericht gebeten, und ich fürchte, wenn ich meine Aufzeichnungen selbst tippe, würde ich eine Woche dazu brauchen. Und so habe ich mich gefragt, ob Sie nicht.«
«Aber mit Vergnügen. Ihre Schreibmaschine oder meine?«
«Nun, ich habe eigentlich eine sehr gute. Sie ist elektrisch und.«
«Wunderbar! Um wieviel Uhr soll ich vorbeikommen?«
Ben seufzte erleichtert.»Ist in einer halben Stunde zu früh?«
«Nein, das paßt ausgezeichnet.«
«Ich werde Sie natürlich dafür bezahlen.«
«Nicht nötig. Lassen Sie mich nur am Ruhm teilhaben. Und vergewissern Sie sich bitte, daß Sie meinen Namen richtig buchstabieren. Bis gleich, Dr. Messer.«
«Bis gleich und vielen Dank.«
Nachdem er aufgelegt hatte, war er nicht sicher, ob er das Richtige getan hatte. Eigentlich war er sich nicht einmal sicher, warum er es getan hatte. Wie so oft in letzter Zeit, war er einer plötzlichen Eingebung gefolgt, und nun war es zu spät, um alles rückgängig zu machen.
Ben begab sich langsam ins Wohnzimmer. Er befand sich in einem Zwiespalt, mit dem er sich abfinden mußte: Einerseits wollte er allein sein, andererseits verspürte er gleichzeitig das Bedürfnis nach Gesellschaft. Poppäa war nicht genug, und Angie war zuviel. Vielleicht würde Judy irgendwo dazwischen liegen. Wenn sie am Wohnzimmertisch tippte und sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerte und er selbst im Arbeitszimmer saß, dann könnte vielleicht ein vernünftiges Gleichgewicht gefunden werden.
Ben wollte sich nicht eingestehen, daß das Tippen des Tätigkeitsberichts nur ein Vorwand war, um Judy bei sich zu haben. Tief in seinem Innern keimte ein unerklärliches Bedürfnis nach Judy Goldens Gesellschaft, so daß er Gründe und Entschuldigungen erfand, um in ihrer Nähe zu sein.
Ben konnte nur noch daran denken, daß er diesen Abend nicht allein verbringen wollte. Denn Salomon Liebowitz würde niemals freiwillig in seinen Verschlag zurückgehen. Und genausowenig würde Rosa Messers Stimme schweigen.»Sie folterten deinen Vater, Benjamin! Sie folterten ihn zu Tode!«
Ben drehte den Plattenspieler auf — Beethovens siebte Symphonie — und summte mit. Geräuschvoll spülte er in der Küche ein paar Tassen aus und setzte eine frische Kanne Kaffee auf.
«Und was sie mir angetan haben!«schrie Rosa Messers Stimme aus der Vergangenheit.»Eine Mutter sollte das ihrem Sohn nicht erzählen. Aber ich bin damals mit deinem Vater zusammen gestorben. Ich bin an dem gestorben, was die
Deutschen deinem Vater und mir antaten! Ich bin nicht mehr lebendig, Benjamin! Eine Frau sollte nicht durchmachen müssen, was ich durchgemacht habe! Du lebst mit einer Toten, Benjamin!«
Judy Golden mußte sehr laut klopfen, um gehört zu werden. Ben begrüßte sie mit gezwungener Begeisterung. Und zu seiner Überraschung war sie trief endnaß.
«Draußen schüttet es!«erklärte sie.»Wußten Sie das nicht?«
«Nein, ich hatte keine Ahnung. Sie kommen genau richtig, der Kaffee ist gerade fertig.«
Er half ihr aus der dicken Jacke, die er an einen Türrahmen hängte, damit sie schneller trocknete. Dann ging er in die Küche, wobei er ihr auf dem Weg etwas über die Schulter hinweg zurief.»Ich kann Sie nicht hören, Dr. Messer. «Judy sah zum Plattenspieler hinüber.»Donnerwetter«, bemerkte sie leise. Er kehrte um und drehte die Lautstärke herunter.»Entschuldigung.«
«Ich wette, Ihre Nachbarn lieben Sie.«
«Ich habe nur einen auf demselben Stockwerk, und der ist selten zu Hause. Nehmen Sie doch Platz. Sie trinken Ihren Kaffee schwarz, nicht wahr?«
Judy ließ sich auf die luxuriöse Couch fallen und legte ihre Füße auf den Diwan. Die Musik auf der Schallplatte war nun in den zweiten Satz übergegangen — diese langsame, klagende Melodie, die selbst den teilnahmslosesten Zuhörer in ihren Bann schlug. Ben holte aus der Küche Kaffee und ein paar Kuchenstücke, die er zuvor aus dem Tiefkühlfach genommen hatte.
«Sie haben hoffentlich schon zu Abend gegessen. Ich dachte nicht.«
«O ja.«
«Sie haben keine Verabredung oder irgend etwas abgesagt, um herzukommen.?«Seine Stimme wurde schwächer. Judy sah ihn belustigt aus den Augenwinkeln an.