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Am Anfang meiner Lehrzeit, als ich auf meiner Matte lag und in das Dunkel unserer winzigen Kammer starrte, ließ ich meinen Tränen freien Lauf. Eine große Finsternis breitete sich vor mir aus, ein so weiter, unendlicher, furchterregender Abgrund, daß meine Kinderseele laut aufschrie:»Bin ich würdig genug, Herr?«Und ich hatte Heimweh nach Magdala. Ich träumte vom Haus meines Vaters am Seeufer; davon, wie ich ihm half, seine Netze unter der heißen Sonne aufzuspannen, und im Traum hörte ich sein rauhes Lachen. Ich vermißte die Umarmung meiner Mutter, den süßen Duft nach Honig und Gerste, der sie stets umgab; die Art, wie ihr die Tränen kamen, wenn sie zu sehr lachte. Ich hatte Sehnsucht nach den Sommernächten, in denen wir alle draußen vor dem Haus saßen, gebratenen Fisch und Schrotbrot aßen und dazu die Milch unserer einzigen Ziege tranken. Das Feuer der Kochstellen erhellte jedes lächelnde Gesicht. Die Männer unterhielten sich leise, und die Frauen summten in ruhiger Zufriedenheit vor sich hin. Vor uns lag der schwarze See Genezareth, der unser ganzes Leben bestimmte. Und hinter uns erstreckten sich die westlichen Hügel bis zu einem Gewässer, das so riesig war, daß man es das» Große Meer «nannte, und jenseits davon — das Ende der Welt.

Während Saul auf seiner Matte schlummerte, schluchzte ich wie ein Kind vor Einsamkeit.»Vater«, rief ich ihm über die Entfernung hinweg zu,»warum hast du mich hierher geschickt?«Doch es stand mir nicht zu, die Entscheidungen meines Vaters in Zweifel zu ziehen. Ich hatte demütig zu sein und von Eleasar das Gesetz des heiligen Bundes zu lernen. Mit weniger wollte ich mich nicht begnügen. Ich würde eines Tages ein großer Rabbi werden und die Thora aus dem Gedächtnis zitieren. Ich würde werden wie Eleasar.

Jerusalem schien kleiner zu werden, je älter ich wurde. Als ich mit elf Jahren im Haus meiner Schwester zum erstenmal die Stadt sah, überwältigte sie mich. Doch je mehr ich körperlich und geistig heranwuchs, desto mehr schien Jerusalem zu schrumpfen. Warum dies so war, wußte ich nicht. Doch Du hast Jerusalem gesehen, mein Sohn, und Du weißt, was ich meine, wenn ich sage, es ist der Mittelpunkt der Welt. Du hast die Geschäftigkeit seines Marktplatzes erlebt, den Lärm der vielen Menschen vernommen und den mannigfaltigen Gestank seiner Rinnsteine eingeatmet. Du warst auch Zeuge seiner Pracht und fühltest die Gegenwart des Herrn, wo immer du auch gingst.

Vom ersten Tag an standen Saul und ich vor dem Morgengrauen auf, verrichteten unsere Gebete, steckten uns Brot und Käse in unsere Gürtel und brachen mit Rabbi Eleasar zum Tempel auf. Den ganzen Tag über sprach er mit uns. Während ein Großteil der Stadt noch im Schlafe lag, wanderten wir, fest in unsere Umhänge gehüllt, durch jene kalten Straßen und erörterten das Gesetz. Wenn wir in Eleasars Gesellschaft waren, gab es nie einen Augenblick, in dem wir nicht über das Gesetz sprachen. Und er prüfte uns ständig. Wenn wir bei einer Antwort zögerten, war er streng mit uns. Wenn wir richtig antworteten, lächelte er zustimmend. An der Vorhalle des Tempels erspähte ich oft andere Knaben, die uns neidisch beobachteten. Als Eleasar Saul und mich aufgenommen hatte, hatte er zugleich siebenunddreißig andere abgewiesen. Ich versuchte, deshalb nicht hochmütig zu werden, auch wenn es mir ziemlich schwerfiel. Mein Lehrer wußte mehr über das Gesetz als irgend jemand anders, und eines Tages würde ich sein wie er. Saul und ich waren ihm nicht gleichgültig, obwohl es uns vielleicht anfangs so vorkam. Die anderen Knaben waren weiter fortgeschritten als wir und schienen häufiger mit seinem Lächeln bedacht zu werden. Doch wie in der Parabel von dem verlorenen Schaf wandte sich Eleasar oftmals von den anderen Knaben ab, um uns gesondert zu unterweisen.

Mit der Zeit verlor ich meine Ängste und weinte nicht mehr. Statt dessen versah ich mein Amt mit großer Entschlossenheit. Die Aufgabe, am Brunnen Wasser zu schöpfen, war meine einzige Schmach. Und ich fühlte, daß man mich damit auf die Probe stellen wollte. Wenn ich in einem Punkt schwach war, dann in diesem. Hätte ich es jedoch gezeigt, so hätte Eleasar mich weggeschickt. So peinlich es auch war, eine Frauenarbeit zu verrichten, so führte ich sie doch genau aus und verdiente mir dadurch ein klein wenig von Eleasars Respekt.

Und dies war auch alles, was wir verdienen konnten, denn da der Rabbi uns Unterkunft und Verpflegung gewährte, brauchten wir kein Geld. Und dennoch gab es da einen Fall, in dem ich Geld benötigte, und zwar als ich mich zum erstenmal mit meinem Vater in Verbindung setzen wollte. Ich war bereits seit sechs Monaten im Hause des Rabbis und hatte das dringende Bedürfnis, meinem Vater in meinen eigenen Worten zu schildern, wie mein neues Leben sich anließ.

Wie sollte ich indessen einen Brief schreiben, wenn ich weder Papyrus noch Tinte besaß und auch nichts hatte, um einen Boten zu bezahlen? Ich suchte nach einer Möglichkeit. Unsere Wasserbehälter wurden jeden Nachmittag kurz vor Sonnenuntergang aufgefüllt, so daß Eleasars Frau Ruth genügend Wasser zum Kochen und Waschen hatte. Eines Tages fiel mir ein, daß ich dieselbe Besorgung auch für eine andere Person verrichten und mir dabei vielleicht ein kleines Trinkgeld verdienen könnte. Mein Problem war folgendes: Alle mir zur Verfügung stehende Zeit war dem Studium des

Gesetzes gewidmet. Der übrige Tag war mit Beten, Essen und Schlafen ausgefüllt — alles unter Eleasars wachsamem Auge. Und so konnte sich eine günstige Gelegenheit nur am Brunnen ergeben, was eines Tages auch geschah. Als ich meinen Tonkrug eintauchte und hochzog, beobachtete ich die mühevollen Anstrengungen einer alten Witwe, die ich schon vorher des öfteren gesehen hatte. Ich wußte, daß sie eine alleinstehende Frau ohne Angehörige oder Freunde war, und obgleich sie nicht arm war, konnte sie sich keine Diener leisten. So trat ich zu ihr hin und sagte ihr dies:»Wenn ich einen Monat lang für Euch Wasser tragen und Euch damit die Mühsal ersparen würde, würdet Ihr mir dann einen Schekel bezahlen?«

Zu meinem großen Erstaunen nahm die Witwe freudig an. Ihr Rücken schmerzte sie, und ihre Gelenke waren steif, und dennoch gab es niemanden, der für sie Wasser schöpfte. Und so kamen wir rasch über ein.

Ab sofort hatte ich sowohl die Wasserbehälter meines eigenen Hauses als auch die ihren in derselben Zeit zu füllen. Denn Rabbi Eleasar hätte es nicht gebilligt, wenn mir für das Studium des göttlichen Gesetzes auch nur ein Moment verlorengegangen wäre. So tat ich folgendes: Ich lief doppelt so schnell und trug doppelt soviel Wasser. In der Zeit, die ich benötigt hatte, um unsere eigenen Wasservorräte aufzufüllen, füllte ich nun auch die der Witwe auf. Zuerst ermüdete ich rasch, und meine Muskeln schmerzten furchtbar. Und das Hinken, das mir aus meiner Kindheit geblieben war, stellte zunächst eine wahre Behinderung dar. Doch allmählich paßte sich mein Körper den neuen Umständen an, und ich fand die Arbeit gar nicht mehr so hart.

Doch schon damals — ich hätte es nicht für möglich gehalten hatte Eleasar bereits Verdacht geschöpft.

Nach einem Monat bezahlte mir die Witwe nicht einen Schekel, sondern zwei, und als ich mich an diesem Abend auf meine Matte zum Schlafen niederlegen wollte, fand ich darauf ein frisches Blatt Papyrus.

Nach einem weiteren Monat gab sie mir wieder zwei Schekel, und ich fand ein Schreibrohr auf meinem Lager. Am Ende des dritten Monats wieder zwei Schekel und ein schwarzer Tintenstein auf meiner Matte.