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«Was ist, wenn sie älter sind? Vielleicht aus dem ersten Jahrhundert?«

Ben zuckte die Schultern.»Das ist möglich, aber um das sagen zu können, ist es noch zu früh. Weatherby tippt auf das späte zweite Jahrhundert. Die Radiokarbonmethode kann es nicht weiter für uns eingrenzen. Letztendlich hängt es von meiner Analyse des Schreibstils ab. Erst sie wird uns Aufschluß darüber geben, wann David Ben Jona gelebt hat. Dabei ist meine Tätigkeit keine exakte Wissenschaft. Aus dem zu schließen, was ich bislang gelesen habe, könnte der alte David Ben Jona zu jeder x-beliebigen Zeit innerhalb einer Epoche von dreihundert Jahren gelebt haben.«

Ein verträumter Blick zeigte sich auf Angies Gesicht. Es war ihr gerade etwas eingefallen.»Aber das erste Jahrhundert wäre das phantastischste, nicht wahr?«

«Natürlich. Neben den Qumran-Handschriften, den Briefen von Bar Kochba und den Schriftrollen von Masada existiert nach heutiger Kenntnis kein weiteres aramäisches Schriftstück aus der Zeit Christi.«

«Meinst du, er wird darin erwähnt?«

«Wer?«

«Jesus.«

«Oh, na ja, ich glaube nicht. «Ben wandte seinen Blick von ihr ab. Für ihn war die Wendung» aus der Zeit Christi «lediglich ein Instrument zum Festlegen des historischen Maßstabs. Es war einfacher, als zu sagen» vom Jahr vier vor unserer Zeitrechnung bis etwa zum Jahr siebzig nach unserer Zeitrechnung «oder» nach-augustinisch und präflavianisch«. Es war nur ein Kürzel zur Bezeichnung dieser bestimmten Epoche in der Geschichte. Ben besaß seine eigene Theorie über den Mann, den die Leute Christus nannten. Und diese wich von der Norm ab.

«Du wirst also anhand der Schriften herausfinden können, wann es geschrieben wurde?«

«Das will ich hoffen. Die Schreibstile veränderten sich im Laufe der Jahrhunderte. Die Handschrift selbst, das benutzte Alphabet und die Sprache sind meine drei Maßstäbe. Ich werde Weatherbys Rollen mit anderen vergleichen, die wir heute schon besitzen, wie etwa die von Masada, und sehen, inwieweit der Schreibstil übereinstimmt. Nun haben wir nach der chemischen Analyse des Papyrus ein hypothetisches Entstehungsdatum von vierzig C. E. mit einer Spannweite von zweihundert Jahren. Das bedeutet, der Papyrus wurde zwischen hundertsechzig B. C. E. und zweihundertvierzig C. E. hergestellt.«

«Was heißt C. E.?«

«Es steht für Common Era und bedeutet dasselbe wie A. D. >Anno Domini< oder >Christi Geburtc, beinhaltet aber keine religiöse Anspielung. Archäologen und Theologen benutzen es. Aber es ist ja auch einerlei, wie man sich bei der Zeitangabe nun ausdrückt. Die Radiokarbonmethode funktioniert prima bei prähistorischen Schädeln, wo ein so großer zeitlicher Spielraum nicht weiter stört. Aber wenn man eine relativ kleine Zeitspanne vor ungefähr zweitausend Jahren eingrenzen will, dann ist ein Spielraum von zweihundert Jahren praktisch überhaupt keine Hilfe. Er bildet lediglich die Grundlage, von der man ausgeht. Dann versuchen wir, anhand der Bodentiefe, in der die Ausgrabung gemacht wurde, ein Datum zu bestimmen. Ältere Schichten liegen darunter, und Lagen aus jüngeren Jahren breiten sich darüber aus. Wie geologische Bodenschichten. Doch nachdem dies alles geschehen ist, müssen wir uns für das endgültige Datum doch wieder der Schrift selbst zuwenden. Und bisher schreibt dieser

David Ben Jona in einer Art, die große Ähnlichkeit mit den Handschriften vom Toten Meer aufweist und die man irgendwann zwischen hundert vor Christus und zweihundert nach Christus datieren kann.«

«Vielleicht erwähnt dieser David in seinem Schriftstück etwas, was dir einen genauen Anhaltspunkt geben könnte, einen Namen, ein Ereignis oder sonst etwas.«

Ben, der eben sein Glas zu den Lippen führen wollte, hielt auf halbem Weg inne und starrte Angie an. Darauf war er selbst noch gar nicht gekommen. Und warum sollte es auch nicht möglich sein? Schließlich hatte das erste Bruchstück ja bereits bewiesen, daß diese Migdal-Schriftrollen sich von allen bisherigen unterschieden. Es war möglich. Alles war möglich.

«Ich weiß nicht, Angie«, antwortete er langsam.»Daß er uns ein Datum nennt. auf soviel darf man wohl nicht hoffen. «Sie zuckte die Achseln.»So wie du redest, könnte man meinen, daß du nicht einmal auf die Rollen selbst hättest hoffen dürfen. Und dennoch sind sie da.«

Ben blickte sie abermals erstaunt an. Angies Fähigkeit, selbst die wunderlichsten Ereignisse ganz beiläufig hinzunehmen, überraschte ihn immer wieder. Und doch, so überlegte er jetzt, während er ihren gleichgültigen Gesichtsausdruck studierte, war es vielleicht nicht so sehr die Gelassenheit, mit der sie gewisse Ereignisse hinnahm, sondern vielmehr die Gelassenheit, mit der sie sie abtat. Sie besaß die Fähigkeit, alles mit der gleichen nüchternen Sachlichkeit aufzunehmen, sei es nun die Tageszeit oder die Nachricht von einer Katastrophe. Angie war keine Frau von heftigen Leidenschaften. Niemals hatte sie etwas an den Tag gelegt, was auch nur annähernd einem Gefühlsausbruch gleichkam. Und sie schien in der Tat stolz darauf zu sein, eine höchst gleichmütige Person zu sein. Selbst in Krisensituationen verlor sie nie die Fassung. Eine beliebte Anekdote, die in ihrem

Freundeskreis immer wieder erzählt wurde, handelte von Angies Reaktion auf die Nachricht von der Ermordung John F. Kennedys. Noch keine Stunde, nachdem es geschehen war und die ganze Welt von Entsetzen erfüllt war, hatte ihr einziger Kommentar gelautet:»Tja, das Leben ist gemein.«

«Ja, Schriftrollen wie diese sind mehr, als man sich zu erhoffen wagt. Eigentlich sind sie der Traum eines jeden Archäologen. Allerdings. «Bens Stimme wurde schwächer. Da gab es noch so viele Wenn und Aber. Dr. Weatherby hatte in seinen Briefen nur auf» Schriftrollen «hingewiesen. Doch er hatte nie ihre genaue Anzahl erwähnt. Wie viele von ihnen gab es dort? Wie viele hatte der alte David Ben Jona wohl noch schreiben können, bevor er von» diesem Leben in ein anderes «hinübergegangen war? Und was war es, das er noch so dringend hatte loswerden und zu Papier bringen müssen? Während er mit Angie vor dem Feuer saß und Wein trank, begann Ben über Fragen nachzudenken, die ihm bis dahin nie in den Sinn gekommen waren.

Ja, in der Tat, was mochte den alten Juden wohl dazu gebracht haben, sein Leben zu Papier zu bringen? Was war so Bedeutendes geschehen, daß er das machte, was so wenige seiner Zeitgenossen taten: die eigenen Gedanken

niederzuschreiben? Und was hatte ihn dann veranlaßt, jene Rollen ebenso sorgfältig zu verpacken, wie es die Mönche vom Toten Meer getan hatten — seine Aufzeichnungen als Lektüre für seinen Sohn?

Und dann dieser absonderliche Fluch! Die Rollen mußten etwas Wichtiges enthalten, wenn der alte David so weit gegangen war, um sie zu schützen.

Ben unterbrach seine Spekulationen und konzentrierte seine Gedanken wieder auf den Fund selbst. Er wußte aus Erfahrung, daß es nicht lange dauern würde, bis die Nachricht davon durchsickerte, und war dies einmal geschehen, dann würde die

Welt den Atem anhalten. Der Medienrummel wäre schwindelerregend. Sein Name, Dr. Benjamin Messer, würde untrennbar mit der Entdeckung verbunden, und er fände sich plötzlich in dem Rampenlicht wieder, von dem er so oft geträumt hatte. Er würde Bücher veröffentlichen, im Fernsehen interviewt werden und Vortragsreisen durchs ganze Land unternehmen. Er fände Ansehen, Ruhm und Anerkennung und. Im knisternden Feuer schlugen die Flammen hoch und tauchten das Zimmer für einen Moment in hellen Schein. Irgendwo, ganz nahe, hörte er ein sanftes Atmen. Ben spürte, wie sein Gesicht sich zunehmend erhitzte, sei es nun von dem Feuer im Kamin oder von seiner inneren Erregung. Er wurde langsam müde und dachte an die Briefe, die John Weatherby ihm geschrieben hatte.