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«Warum diese Träume?«murmelte Ben, als er am nächsten Morgen wieder unausgeschlafen und verstört erwachte.»Warum muß ich das erdulden? Ist es nicht genug, daß mich nach all diesen Jahren meine Vergangenheit wieder eingeholt hat und ich nicht mehr imstande bin, sie aus meinem Gedächtnis zu verbannen? Ich verstehe nicht, warum ich diese heftigen Alpträume haben muß!«

Er schleppte sich auf bleischweren Füßen durch die Wohnung, während sich das nebelhafte Gespenst David Ben Jonas dicht an seiner Seite hielt. Ben war nicht nach Essen zumute. Auch hatte er keine Lust, irgend etwas anderes zu tun, außer die nächste Rolle zu lesen. Vor vier Uhr nachmittags würde sie nicht eintreffen, und Ben fürchtete sich vor den Stunden des Wartens.

In der Hoffnung, daß er davon einschliefe, schenkte Ben sich ein großes Glas Wasser ein, trank es in einem Zug aus und legte sich erschöpft auf die Couch.

Judy mußte diesmal nicht an die Tür klopfen, denn zu ihrer großen Überraschung stand sie halb offen. Es war acht Uhr abends. Sie war sich sicher, daß Ben zu Hause war und an seiner Übersetzung saß, doch in der Wohnung brannte kein Licht.

Vorsichtig streckte sie ihren Kopf hinein.»Ben? Schlafen Sie? Ich bin’s.«

Totenstille.

«Ben?«Sie trat ganz ein und schloß leise die Tür hinter sich.

Die Wohnung war dunkel und kühl. In der Luft hing unverkennbar der Geruch nach Alkohol. Judy bemühte sich, etwas zu sehen. Als plötzlich etwas Warmes ihr Bein berührte, stockte ihr der Atem.»Oh, Poppäa!«rief sie.»Hast du mich vielleicht erschreckt!«Judy nahm die Katze auf den Arm und ging weiter in die Wohnung. Ben lag auf dem Wohnzimmerboden, neben einer leeren Weinflasche und einer leeren Scotch-Flasche. In unmittelbarer Nähe lag ein umgestoßenes Glas, inmitten eines roten Flecks auf dem Vorleger. Judy kniete sich neben ihn und schüttelte ihn an der Schulter.»Ben? Ben, wachen Sie auf.«

«Hm? Was gibt’s?«Sein Kopf rollte von einer Seite auf die andere.»Ben, ich bin’s, Judy. Ist alles in Ordnung?«

«Ja.«, lallte er.»Is schon gut.«

«Ben, wachen Sie auf. Es ist spät. Kommen Sie schon. «Er hob zitternd eine Hand und faßte sich an die Stirn.»Fühl mich hundeelend.«, stammelte er.»Ich glaub’, ich sterbe.«

«Heda«, flüsterte sie,»so schnell stirbt man nicht. Aber Sie müssen aufstehen. Wie sieht es hier aus!«

Endlich schlug Ben die Augen auf und versuchte, sie anzusehen.»Es war Davids Schuld, wissen Sie?«brachte er undeutlich hervor.»Er hat mich dazu getrieben. Ich habe zwei Stunden lang am Briefkasten gewartet, aber die Rolle ist nicht gekommen! Das hat er absichtlich getan. Er beobachtet mich, Judy. Die ganze Zeit über. Egal, was ich tue, dieser gottverdammte Jude steht immer neben mir.«

«Stehen Sie bitte auf.«

«Oh, wozu soll das gut sein? Es gibt keine Rolle. Wie soll ich das heute nacht und morgen nur durchstehen?«

«Seien Sie unbesorgt. Ich werde Ihnen helfen. Los jetzt. «Sie schob einen Arm unter seine Schultern und half ihm, sich aufzusetzen. Dabei schaute Ben in ihr Gesicht, das so dicht an dem seinen war, und murmelte:»Wissen Sie, früher fand ich nicht, daß Sie hübsch seien, aber jetzt sehe ich es.«

«Danke. Meinen Sie, Sie können aufstehen?«

Er umklammerte seinen Kopf mit den Händen und schrie:»David Ben Jona, du bist ein niederträchtiger Halunke! Ja. ich denke, ich kann aufstehen.«

Judy stöhnte, als sie Ben auf die Beine half. Es gelang ihr, ihn ins Badezimmer zu führen, wo sie das große, helle Licht einschaltete und ihn mit fester Stimme anwies, sich unter die Dusche zu stellen. Er gehorchte ohne Widerspruch. Als er sich auszog, drehte Judy das Wasser auf und ließ ihn dann allein. Im Schlafzimmer fand sie Kleider und Wäsche zum Wechseln, reichte sie ihm durch die Badezimmertür hinein und rief:»Lassen Sie sich nur Zeit!«Dann ging sie zurück ins Wohnzimmer und brachte es, so gut sie konnte, in Ordnung. Als Ben eine halbe Stunde später wieder herauskam, sah er etwas besser aus. Er sagte kein Wort, als er zur Couch hinüberging, sich setzte und anfing, den starken Kaffee zu trinken, den sie für ihn bereitgestellt hatte. Fünf lange Minuten vergingen, bis er endlich zu ihr aufsah.»Es tut mir leid«, entschuldigte er sich leise.»Ich weiß.«

«Ich weiß einfach nicht, was mit mir los ist. Ich habe nie zuvor so etwas getan. Ich blicke einfach nicht mehr durch. «Wie er so dasaß und den Kopf schüttelte, versuchte Judy sich vorzustellen, was er durchmachte. Sie sah sein gealtertes, blasses Gesicht mit dem Stoppelbart und fragte sich, wie es wohl für einen Menschen sein mußte, wenn man ihm plötzlich seine Identität aus dem Leibe reißt und ihn ohne irgendeinen

Ersatz einfach stehenläßt. Ohne irgend etwas Greifbares, nur mit entsetzlichen Erinnerungen.»Ich erinnere mich«, begann er mit belegter Stimme,»ich erinnere mich noch genau daran, wie meine Mutter und ich am Schabbes im Dunkeln saßen, und wie sie mir immer und immer wieder einschärfte; >Benjy, deine Aufgabe ist es, unter den Juden ein Führer zu sein. Dein einziger Lebensinhalt muß darin bestehen, ein großer Rabbiner zu werden und die Juden zu lehren, die Thora als Schutzschild zu benutzen.««

Er zwang sich zu einem trockenen Lachen.»Sie hatte immer nach Eretz Israel gehen wollen, doch statt dessen war sie in die Vereinigten Staaten gekommen. Sie sprach ständig davon, eines Tages mit ihrem Sohn, dem berühmten Rabbiner, nach Israel auszuwandern. «Er starrte nachdenklich in seinen schwarzen Kaffee.»Ich habe den Teppich bestimmt verhunzt, nicht wahr?«

Judy schaute auf den großen Weinfleck, der den Teppich verunstaltete.»Mit Shampoo müßte man den Flecken schon rauskriegen.«

«Das ist schön, aber im Grunde ist es mir auch egal. «Ben richtete seine blauen Augen auf Judy, und sie sah, wie sorgenvoll sie waren.»Ich hinterfrage es nicht mehr. Es ist einfach geschehen. Wer weiß, warum? Vielleicht ist der Fluch Mose daran schuld. Aber es ist mir gleich. David steht in diesem Augenblick hier neben mir und horcht mit, was ich Ihnen sage. Ich habe keine Ahnung, worauf er wartet, doch ich nehme an, daß ich es erfahren werde, wenn das geschieht, was er erwartet.«

Ben trank wieder ein paar Schluck Kaffee, während sein Blick abermals an dem Teppichflecken haften blieb. Als er endlich die Tasse abstellte, stieß er einen langen, tiefen Seufzer aus.»O David. David«, entfuhr es ihm. In seinen Augen standen Tränen.»Was ist dir vor all diesen Jahren widerfahren? Wie bist du gestorben? Und woher wußtest du, daß du sterben würdest? Du hast einmal daran gedacht, dir das Leben zu nehmen, als es dir unerträglich erschien, weiterzumachen. Ist es das, was am Ende passierte? Hofftest du darauf, im Selbstmord Trost zu finden?«

Judy langte zu ihm hinüber und legte ihre Hand auf die seine. Sehr lange blieben sie so sitzen und starrten vor sich hin.

Tags darauf kam sie am frühen Nachmittag zurück. Sie hatte Bens Wohnung um Mitternacht verlassen, nachdem sie sich vorher noch darum gekümmert hatte, daß er eine Weile schlief. Danach war sie nach Hause gegangen und hatte Vorbereitungen für den Fall getroffen, daß sie ihren Hund Bruno in den nächsten Tagen zu jemandem in Pflege geben müßte. Judy ahnte, daß sie vielleicht bald für längere Zeit von zu Hause weg wäre.

Nach ihren beiden Vorlesungen an der Uni hatte sie in einem Supermarkt eingekauft und traf um Punkt drei Uhr bei Ben ein. Als er auf ihr Klopfen nicht reagierte, kramte sie den Wohnungsschlüssel aus ihrer Tasche, den Ben ihr am Abend zuvor mitgegeben hatte, und öffnete die Tür. In der Wohnung stellte sie zu ihrer Überraschung fest, daß er nicht zu Hause war.

Das Bett war sorgfältig gemacht, das Wohnzimmer ein wenig aufgeräumt, und in der Küche standen frisch gespülte Kaffeetassen. Im Arbeitszimmer stieß Judy dagegen auf das vertraute Durcheinander. Auf dem überquellenden Schreibtisch lag die Post vom Vortag, darunter auch ein ungeöffneter Brief von Joe Randall, dem Mann, der auf eine Übersetzung des alexandrinischen Kodex’ wartete. Ganz oben auf dem unordentlichen Haufen lag ein Stück geblümtes Briefpapier, auf dem in einer weiblichen Handschrift eine kurze Mitteilung geschrieben stand. Es stammte von Angie. Eine Hotelagentur hatte ihr einen Job in Boston angeboten, und sie beabsichtigte, ihn anzunehmen. Dies würde bedeuten, daß sie eine Zeitlang fort wäre. Falls Ben darüber sprechen wollte, wäre sie noch bis morgen abend zu Hause. Dann würde sie aufbrechen.