Müde erhob sich Judy von der Couch. Sie war sich ihrer Gefühle in diesem Augenblick nicht sicher. Sie wußte nicht, ob sie über die Nachricht glücklich, traurig oder ärgerlich war. In gewisser Hinsicht war sie alles auf einmal.
Ben kam pfeifend ins Wohnzimmer, und als er Judys Miene sah, blieb er unvermittelt stehen.»Was ist los?«
«Es ist wegen Weatherby«, antwortete sie mit fester Stimme.»O Ben.«
Rasch stellte er die Tassen auf dem Couchtischchen ab und griff nach dem Telegramm.
Judy sagte:»Ich weiß nicht, ob ich schreien oder lachen oder weinen soll, Ben. Dr. Weatherby hat drei weitere Schriftrollen gefunden.«
Kapitel Fünfzehn
Die Tage, die bis zum Eintreffen von Nummer elf vergingen, waren für Ben und Judy eine schier unerträgliche Zeit. Judy hatte eine halbe Stunde gebraucht, um nach Hause zu hetzen, ein paar Dinge zusammenzupacken, Bruno der Obhut eines Nachbarn anzuvertrauen und wieder zurückzueilen. Hatte die Nachricht vom Ende der Rollen Ben fast zusammenbrechen lassen, so brachte ihn die Neuigkeit von drei weiteren Rollen nun völlig aus dem Gleichgewicht. Sie erlebte mit, wie er beständig zwischen drei Zeitebenen hin- und hersprang. Für einen Augenblick war er in der Gegenwart ganz normal und gesprächig; im nächsten Moment befand er sich wieder als armer, gequälter Junge in Brooklyn, und gleich darauf genoß er als David Ben Jona unter einem Olivenbaum eine Mahlzeit aus getrocknetem Fisch und Käse. Dann kam er wieder in die Gegenwart zurück und konnte sich nicht mehr erinnern, was in den letzten Minuten geschehen war.»Ich habe keine Kontrolle darüber!«schrie er an diesem Abend verzweifelt.»Ich kann es nicht bekämpfen. Wenn David von mir Besitz ergreift, läßt er mich das sehen, was er will!«
Und wenn Ben in diesen Zustand geriet, nahm Judy ihn in die Arme und wiegte ihn, bis er ruhig wurde.
An diesem Abend löste sie eine Schlaftablette in etwas warmem Wein auf und verhalf ihm damit zum ersten erholsamen Schlaf seit vielen Tagen. Nachdem er in seinem Bett fest eingeschlafen war und mit friedlichem Gesicht und ruhig atmend dalag, machte sie sich mit einem Kopfkissen und einer Decke ein Lager auf der Couch zurecht und lag noch lange wach, bevor sie ebenfalls einschlief.
Am nächsten Morgen, nach einer traumlosen Nacht, schien es Ben schon wesentlich besser zu gehen. Er duschte, rasierte sich und zog frische Kleider an. Obgleich er nach außen hin fröhlich schien, bemerkte Judy darunter die Anzeichen der Unruhe — ruckartige Handbewegungen, rasche, flüchtige Blicke, ein gezwungenes, nervöses Lachen. Sie wußte, daß Ben begierig war, die nächste Rolle zu bekommen, und sie war sich auch darüber im klaren, daß seine Unruhe mit jedem Tag zunehmen würde.
Sie spürte es auch. Eine weitere Rolle. ja sogar drei weitere Schriftrollen! So wären diese drei Rollen diejenigen, welche die unbeschriebenen sechzehn Jahre ausfüllen würden. Sie würden von der Entwicklung der Messias-Bewegung berichten und die schändliche Tat enthüllen, die David begangen hatte und für die er sterben sollte. Auch Judy sehnte die Ankunft der Rolle herbei und hoffte verzweifelt, daß alles vorüber wäre, bevor Ben den letzten Rest seines gesunden Menschenverstandes einbüßte.
Am Sonntag gelang es ihr, ihn abzulenken, indem sie ihn in Diskussionen verwickelte und noch einmal seine bisherigen Übersetzungen mit ihm durchging. Stundenlang saß er da und starrte auf die aramäische Schrift auf dem Papyrus, und Judy wußte, daß er zweitausend Jahre von ihr entfernt weilte und gerade einen ruhigen Tag im Leben von David Ben Jona verlebte. Sie unternahm nicht einmal den Versuch, ihn aus dieser Welt zu reißen, denn er schien mit sich selbst im reinen und vollkommen zufrieden. Sie kam zu dem Schluß, daß es im Augenblick besser war, ihn Davids friedvollen Tag in Ruhe genießen zu lassen, als ihn in die stürmische Gegenwart zurückzuholen. Denn wenn er wieder er selbst war und in dieser Wirklichkeit lebte, war er nervös und hörte nicht auf, hin und her zu laufen. Und wenn er wieder in seine Kindheit zurückglitt und die Schreckensszenen mit seiner verrückten
Mutter durchlebte, weinte er und rief Verwünschungen auf Jiddisch und warf sich hin und her.
So ließ ihn Judy in seiner Traumwelt und hoffte, daß er dort bleiben möge, bis die nächste Rolle eintraf.
Am Montag kam ein Brief von Weatherby. Bevor er eintraf, war Ben fünf Stunden lang in der Gegenwart geblieben, ohne auch nur einmal in eine andere Zeit abzugleiten. Er konnte klar denken und war vollkommen Herr seiner selbst. Abgesehen von seiner großen Unruhe, war er beinahe normal. Judy mußte ihn davon abhalten, über den Postboten herzufallen, als dieser auftauchte. Und dann mußte sie ihm über eine gewaltige Enttäuschung hinweghelfen, als er statt der erwarteten Rolle nur einen Brief von Weatherby bekam. Er blieb lange genug in der Gegenwart, daß Judy den Brief lesen und für Ben kurz zusammenfassen konnte.
«Er schildert, wie sie die letzten drei Tonkrüge gefunden haben«, erklärte sie.»Nachdem sie sich bereits mit dem Gedanken abgefunden hatten, daß es wohl keine weiteren Rollen mehr gebe, ist, wie es scheint, der Boden des Hauses eingestürzt, und darunter kam so etwas wie ein alter Regenwasserspeicher oder Lagerraum zum Vorschein. Darin befanden sich drei weitere Tongefäße. Weatherby meint, daß dem alten David in seinem ursprünglichen Versteck wohl der Platz knapp geworden war, so daß er den Rest hier untergebracht hatte. Auf alle Fälle, sagt Weatherby, haben sie seitdem den ganzen Bereich gründlich durchsucht und seien auf nichts anderes mehr gestoßen. Er ist sich sicher, daß diese nun wirklich die letzten Rollen sind.«
«Teilt er uns auch mit, in welchem Zustand sie sind und wann er sie abgeschickt hat?«
«Nein, aber er schreibt, daß er ungeduldig auf eine Nachricht von dir wartet.«
«Ha! Das ist wie ein Schlag ins Gesicht!«Ben machte auf dem Absatz kehrt, und in diesem Augenblick ergriff David jäh Besitz von ihm. Wieder fiel jener gleichgültige, starre Blick wie ein Vorhang über Bens Gesichts. Und er wandte sich ohne ein weiteres Wort von ihr ab, glitt leise ins Schlafzimmer und ließ sich aufs Bett fallen. Da er nun für eine Weile nicht ansprechbar sein würde, beschloß Judy, die Zeit sinnvoll zu nutzen. Sie stellte deshalb die Schreibmaschine im Wohnzimmer auf und fing an, die Übersetzungen abzutippen.
Rolle Nummer elf traf am nächsten Tag ein. Ben mußte den ganzen Tag Höllenqualen ausstehen. Wie ein im Käfig gefangenes Tier lief er nervös im Zimmer auf und ab. Von ihrem Platz am Wohnzimmertisch aus belauschte Judy gelegentlich Bens Streitgespräche mit David oder seiner Mutter. Manchmal hörte sie ihn ruhig mit Saul über die Unterschiede zwischen Eleasars und Simons Lehre diskutieren. Dabei kam es ihr oft so vor, als wolle David Saul zum Messianismus bekehren. Hin und wieder sprach Ben auch mit Solomon und gestand ihm leise, daß er zuweilen wünschte, er wäre mit ihm weiter auf die Universität gegangen und ein Rabbi geworden.
Judy hörte, wie Ben David anschrie, er solle gefälligst aus seinem Körper verschwinden und seine schauerlichen Alpträume wieder mitnehmen. Dann wieder hörte sie ihn schluchzen und Jiddisch sprechen, woran sie erkannte, daß er gerade bei seiner Mutter war.
Den allmählichen Zusammenbruch von Bens Vernunft so hautnah mitzuerleben, zerriß Judy beinahe das Herz. Zweimal, nachdem sie ihn etwas über Majdanek hatte brüllen hören, hatte sie ihren Kopf auf die Schreibmaschine gelegt und geweint. Aber es lag nicht in ihrer Macht, einzugreifen. Diesen Kampf hatte Ben allein auszutragen. Die Suche nach der eigenen Identität war eine einsame Suche, und sie wußte, daß ein Eingreifen ihrerseits verheerende Folgen haben würde.