Salmonides zuckte nur die Schultern und schüttelte den Kopf. In den fast elf Jahren unserer Freundschaft hatte er mich bis jetzt noch nicht verstanden.
Es ergab sich, daß ich am Abend vor Einbruch der Dunkelheit mit Salmonides einen kleinen Spaziergang machte, denn ich war rastlos. Auf der Straße begegneten wir großen Menschenmengen, Männern und Frauen unterschiedlichster Herkunft, die sich in mir unverständlichen Sprachen unterhielten. Prostituierte riefen mich aus Toreinfahrten an. Händler schoben Karren, vollbeladen mit Haxen und anderen Teilen vom Schwein. Überall standen Statuen, und von Säulen und Mauern blickten Götzenbilder herab. Es war eine übervölkerte, wimmelnde Stadt, viel schlimmer als Jerusalem selbst während der Passah-Woche.
An einer Stelle spürten wir plötzlich, wie wir von einer Woge erfaßt wurden, als die Menschenmenge sich zusammendrängte und nach vorne bewegte. Salmonides und ich versuchten uns freizukämpfen, jedoch vergebens, so stark war der Sog. Ein lautes Geschrei erhob sich aus dem Volk wie aus einer Kehle. Und in diesem Moment teilte sich der Mob wie die Wogen des Roten Meeres, als sie von Moses zerteilt wurden, und mein Begleiter und ich fanden uns in der ersten Reihe wieder. Vor uns war eine Schneise entstanden, und auf der gegenüberliegenden Seite des Weges stand die andere Hälfte des Pöbelhaufens.
Und dies ist, was wir sahen: Scharen römischer Soldaten in leuchtendroten Umhängen und glänzender Rüstung zogen an uns vorbei und schwenkten die Fahnen von Kaiser Nero. Hinter ihnen kam ein Fanfarenzug. Männer in Reih und Glied bliesen auf Trompeten gen Himmel und machten einen solchen
Lärm, daß ich mir die Ohren zuhalten mußte. Auf den Fanfarenzug folgte ein Regiment der Prätorianergarde, der persönlichen Leibwache des Kaisers, die hocherhobenen Hauptes und in anmaßender Eitelkeit an der Menge vorbeistolzierte. Und gleich hinter ihnen fuhr der Kaiser selbst in einem goldenen Triumphwagen, welcher von vier prachtvollen Pferden gezogen wurde. Der sechsundzwanzigjährige Imperator war untersetzt, hatte fast keinen Hals und trug auf seinem Kopf einen dichten, kurzgeschnittenen Schopf roter Locken zur Schau. Er lächelte, als er vorbeifuhr, und winkte uns mit seiner dicken Hand zu. Es faszinierte mich, diesen jungen Mann, der die Welt regierte, leibhaftig und aus nächster Nähe vor mir zu sehen. Diesen jungen Mann, der fast so alt war wie ich selbst. Nachdem Nero vorübergefahren war, bot sich uns ein Anblick, den ich lange nicht vergessen werde. Als nächstes folgte die Frau des Kaisers, Poppäa Sabina, die ihren eigenen mit zwei Pferden bespannten Wagen lenkte.
Sie war zweifellos die prächtigste Frau, derer ich je ansichtig wurde. Goldblondes Haar krönte ihr Haupt und wurde mit winzigen Bändern und juwelenbesetzten Nadeln festgehalten. Ihr schönes Antlitz wies sehr viel Ähnlichkeit mit den Gesichtern auf, die ich in Statuen gesehen hatte. Es war schneeweiß, blaß und fein wie aus Porzellan mit himmelblauen Augen und zartrosa Lippen. Sie wirkte anstößig mit ihrem bloßen Hals und einem unbedeckten Arm. Und doch war sie wunderschön, wie sie so ruhig in ihrem Wagen stand, daß man sie tatsächlich für eine Statue halten konnte. Ihre Kleider waren aus reiner Seide und von einer so lebhaften Lavendelfarbe, daß ich glaubte, den Duft riechen zu können.
Schweigen legte sich über die Menge, als die Kaiserin vorbeifuhr, und als sie in einem ganz kleinen Abstand an mir vorüberkam, fühlte ich, wie mir der Atem stockte. Im ganzen
Römischen Reich konnte es keine Frau geben, die schöner war als sie. Nahe an meinem Ohr hörte ich eine Stimme murmeln:»Sie ist so eitel und nutzlos wie die Göttinnen und hat Zähne wie eine Viper.«
Es war Salmonides, der den bewundernden Blick auf meinem Gesicht bemerkt hatte.
Mit leiser Stimme, so daß niemand anders es hören konnte, fuhr er fort:»Sie badet sich jeden Tag in Milch und reibt sich die Hände mit Krokodilschleim ein. Sie gibt sich aristokratisch, aber im Herzen ist sie eine Hure. Ihretwegen teilte Nero das Schicksal von Orestes und Ödipus.«
Ich wußte, was Salmonides meinte, und verbannte den bezaubernden Anblick aus meinem Gedächtnis. Er hatte recht. So schön und verlockend Poppäa auch sein mochte, so war sie nicht minder ein verführerisches Teufelswerk, dazu bestimmt, Männer ins Verderben zu führen.
Ich erzähle dir all dies, mein Sohn, damit du weißt, daß von Rom nichts Gutes kommt. Während diese Stadt vordergründig reizvoll und verlockend erscheint, ist sie darunter böse und gottlos. Und ich erzähle dir auch deswegen all dies, mein Sohn, auf daß du den rechten Weg wählen mögest.
Während ich diese Zeilen schreibe, sind jene in Jerusalem tot und dahingegangen, und alle, die den Meister zu seinen Lebzeiten kannten, sind umgekommen. Doch jene in Rom leben noch fort, wenngleich sie ihn nie kannten. Der Mann, den sie Messias nennen und auf dessen Rückkehr sie warten, ist ein Mythos. Er hat nie gelebt, und sie werden ewig ausharren müssen. Aber du, mein Sohn, bist ein Jude und mußt auf den Mann warten, der zurückkommen wird, um das Königreich Gottes auf Erden zu verkünden. Er wird nur zu Juden kommen, denn er ist der Messias der Juden. Richte deinen Blick deshalb nicht auf Rom, denn die Menschen dort wandeln auf dem Pfad der Unwahrheit und des Vergessens.
Es war Mitternacht, und das einzige Licht in der Wohnung brannte auf Bens Schreibtisch. Er und Judy saßen dicht beieinander, und während Ben seine Übersetzung niederschrieb, las Judy gleich mit, so daß sie die Ereignisse in Davids Leben zusammen und zur gleichen Zeit erlebten.
Eine ganze Weile sprach keiner von beiden ein Wort, sondern starrten noch immer auf die letzte Zeile, die Ben geschrieben hatte. Sie schwebten zwischen den Zeiten, gefangen in einer Welt zwischen Traum und Wirklichkeit, und schienen sich beinahe davor zu fürchten, die Stimmung zu vertreiben.
Schließlich, nach einem schier endlosen Stillschweigen, sagte Ben mit ausdrucksloser Stimme:»Das ist phantastisch. «Er sprach monoton und ohne Gefühl.»Diese Rolle hat die Sprengkraft einer Bombe, und wenn sie freigesetzt wird. «Er starrte weiter vor sich hin. In seinem glasigen Blick lag eine eigentümliche Ferne, die Judy in Erstaunen versetzte.»Wo bist du jetzt, Ben?«Ganz allmählich, wie ein Schläfer, der aus einem tiefen Schlummer gerissen wird, begann Ben, sich zu rühren und Lebenszeichen von sich zu geben. Er richtete sich auf und reckte sich stöhnend. Dann sah er Judy an und lächelte schwach.»Es gibt eine Menge Leute, denen diese Rolle überhaupt nicht gefallen wird. Sie enthält mit Sicherheit nichts, was der Vatikan begrüßen wird. Ein Urchrist, einer der früheren Anhänger Jesu, der die römische Kirche verdammt. «Dann gab er ein kurzes, trockenes Lachen von sich, und seine Gesichtszüge verhärteten sich.»Sie werden diese Rolle vernichten wollen, wenn nicht gar alle. David vernichten. «Judy zwang sich schließlich dazu, aufzustehen, und stellte fest, daß ihre Beine zitterten.»Los, Ben, laß uns hinüber ins Wohnzimmer gehen. Ich brauche einen Kaffee. «Er zeigte keine Reaktion.»Ben?«
Er saß dicht über eines der Fotos gebeugt und blickte argwöhnisch auf ein verwischtes Wort. Judy bemerkte, daß er seine Brille nicht trug, daß er sie schon den ganzen Abend nicht aufgehabt hatte, und so nahm sie sie und hielt sie ihm hin.
Doch er schob ihre Hand weg und meinte:»Ich brauche sie nicht.«
«Ich verstehe. «Sie drehte und wendete die schwere Brille in ihren Händen.
«Wer bist du jetzt?«Ben schaute auf.»Was?«
«Wer bist du? Mit wem spreche ich, mit Ben oder mit David?«Seine Gesichtszüge waren für einen Moment ausdruckslos und verzogen sich dann zu einem Stirnrunzeln.»Ich. ich weiß nicht. «Er raufte sich die Haare.»Ich weiß nicht. Ich kann es nicht sagen.«
«Komm mit, ich mache dir einen Kaffee. «Judy streckte ihre Hand aus, und zu ihrer Überraschung ergriff er sie ruhig. Er folgte ihr ins Wohnzimmer und sank mit noch immer verstörtem Gesicht auf die Couch. Judy schaltete ein paar Lichter an und ging in die Küche. Während er aus der Küche das Rauschen von laufendem Wasser und das Klappen von Schranktüren hörte, schaute Ben noch immer verwirrt umher. Er fühlte sich ganz merkwürdig — so eigenartig, wie nie zuvor in seinem Leben.