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Als Judy mit dem Kaffee und einigen Krapfen zurückkam, fand sie Ben auf der Couch, sein Gesicht in den Händen vergraben. Sie setzte sich neben ihn, legte ihm sacht eine Hand auf den Rücken und flüsterte:»Was ist los mit dir, Ben?«

Er blickte zu ihr auf, und sie war entsetzt, die Angst und Verwirrung in seinen Augen zu sehen.»Ich fühle mich ganz komisch«, antwortete er mit gepreßter Stimme.»Diese Rolle. irgend etwas daran. «Dann drehte er seinen Kopf zum Arbeitszimmer und schien die Wand mit seinem Blick zu durchdringen, so daß er die Fotos auf dem Schreibtisch sehen konnte.»Poppäa Sabina.«, murmelte er, als versuchte er, zu verstehen.

«Ben, komm jetzt. Iß einen Krapfen und trink einen Schluck Kaffee. Du mußt jetzt wieder zu dir kommen, weil ich möchte, daß du mir etwas erklärst.«

Er richtete seinen stumpfen Blick auf sie.»Und meine Brille. «Während sie gegen den inneren Drang ankämpfte, zu schreien und ihn durch einen Klaps in die Wirklichkeit zurückzubeordern, zwang sie sich dazu, ihm ruhig eine Tasse Kaffee einzuschenken. Er trank sie gehorsam und ohne weitere Regung.

«Es gibt etwas, das ich an dieser Rolle nicht verstehe«, sagte sie laut und versuchte, ihn damit aus der Reserve zu locken.»Wann wurde sie geschrieben?«

Er gab keine Antwort, sondern fuhr fort, zu trinken und vor sich hin zu starren.

«Ben, wann wurde die Rolle geschrieben?«Sie legte eine Hand auf seinen Arm.»In welchem Jahr ist David nach Rom gefahren?«

Endlich trafen Bens Augen die ihren, und er begann langsam, sie klar und deutlich vor sich zu sehen.»Was?«

«Das Jahr, in dem David in Rom war? Welches Jahr war das? Wir haben eine Lücke zwischen Rolle neun und dieser hier, weil wir Rolle zehn verloren haben. Wir sind in der Zeit vorangeschritten. David war in der letzten Rolle zwanzig Jahre alt, und Sauls Sohn war gerade geboren worden. Jetzt sind sie alle älter.«

«Ach, das meinst du«, erwiderte Ben sachlich.»Das läßt sich leicht herausfinden. Wie alt, sagte David, war der Kaiser?«

«Sechsundzwanzig.«

«Und in welchem Jahr wurde Nero geboren?«

«Ich weiß nicht.«

Ben stand plötzlich auf, lief ins Arbeitszimmer und kam eine Minute später mit einem Lexikon zurück. Er blätterte bereits darin, als er wieder seinen Platz auf der Couch einnahm.»Nero. Nero. Nero. «brummte er, während er die Seiten überflog.»Da haben wir’s. «Er schlug mit der Hand auf die entsprechende Stelle.»Geboren im Jahr siebenunddreißig nach unserer Zeitrechnung. «Ben reichte Judy das Buch. Das aufgeschlagene Kapitel trug die Überschrift» Lucius Domitius Ahenobarbus (Nero)«. Der erste Abschnitt bezifferte die Lebensdaten des Kaisers mit siebenunddreißig nach Christus bis achtundsechzig nach Christus.

«Jetzt mußt du nur sechsundzwanzig zu siebenunddreißig hinzuaddieren, dann kommst du auf dreiundsechzig. Das ist das Jahr, in dem David in Rom war, im Jahr dreiundsechzig unserer Zeitrechnung. Das bedeutet, daß Rolle Nummer zehn wahrscheinlich die dazwischenliegenden acht Jahre abdeckte. In dieser Zeit muß sich eine Menge ereignet haben. Saras Bekehrung zu den Armen, zunehmender Wohlstand für David. Hingegen scheint es nicht so, daß Saul ebenfalls dem Heer der Nazaräer beigetreten ist. Ich frage mich, warum wohl.«

Judy schaute Ben forschend an. Plötzlich schien er wieder er selbst zu sein, als ob wenige Minuten vorher überhaupt nichts gewesen wäre. Sie beobachtete ihn, als er sich eine zweite Tasse Kaffee einschenkte und sich daran machte, einen Krapfen zu verzehren.»Rolle zehn«, sprach er mit vollem Mund weiter,»ergänzte diese fehlenden Jahre. Ich bedaure sehr, sie nicht zu haben.«

«Aber es bleiben uns ja immerhin noch sieben Jahre.«

Ben nickte. Er wirkte jetzt ruhig, entspannt und unbeschwert. Was auch immer ihn noch eine Minute vorher bedrückt hatte, jetzt war es vergessen und wie weggeblasen.»Die nächsten beiden Rollen werden diese sieben Jahre ausfüllen. Und sie werden die abscheuliche Tat enthüllen, die David beging. Er wird uns auch Aufschluß darüber geben, warum er kurz davor steht zu sterben.«

Judy nickte nachdenklich und starrte in ihre Tasse. Es fiel ihr schwer, mit Bens abrupten Persönlichkeitsschwankungen fertigzuwerden. Es war nicht leicht, ihm zu folgen, zu wissen, wie man ihn anpacken mußte oder was man als nächstes zu erwarten hatte. Als er endlich seine Tasse abstellte und verkündete:»Ich bin todmüde«, war sie sehr erleichtert.

«Ich gehe ins Bett. Morgen ist auch noch ein Tag, und wir werden eine weitere Rolle erhalten. «Ben erhob sich von der Couch und reckte seinen langen, mageren Körper. Dann hielt er einen Augenblick inne, um auf Judy herabzuschauen, und bemerkte aufs neue, wie klein sie doch wirkte.»He«, sagte er sanft,»es ist spät. Wir müssen uns schlafen legen.«

Aber Judy schüttelte den Kopf. Das Schlimmste an Bens plötzlichen Stimmungsänderungen war, daß er sie gar nicht wahrnahm. Sie wollte fragen:»Was war vor ein paar Minuten mit dir los? Was bringt dich dazu, daß du den Bezug zur Wirklichkeit verlierst?«Aber sie tat es nicht. Sie wußte, was er sagen und wie er reagieren würde. Er hätte keine Erinnerung daran, wie eigenartig er sich verhalten hatte, nachdem er die Rolle gelesen hatte. Und es wäre auch sinnlos, es ihm erklären zu wollen.

«Ich will noch eine Weile aufbleiben«, erwiderte sie abweisend. Ben langte herunter und legte seine Hand auf ihren Kopf.»Weißt du«, begann er mit gedämpfter Stimme,»ich habe dir nie dafür gedankt, daß du zu mir gezogen bist. Durch deine Anwesenheit erhält die Sache ein ganz anderes Gesicht.«

Judy blickte nicht zu ihm auf, rührte sich nicht. Für einen ganz kurzen Augenblick spürte sie, wie er mit der Hand über ihr Haar strich, dann zog er sie zurück, und sie hörte ihn aus dem Wohnzimmer gehen und die Schlafzimmertür hinter sich schließen.

Judy blieb noch eine Zeitlang sitzen, bevor sie schließlich aufstand und zum Fenster hinüberwanderte. Die Vorhänge waren aufgezogen und ließen die kalte, mitternächtliche Finsternis von draußen herein, während sich die Lichter aus der Wohnung auf der Fensterscheibe widerspiegelten. Sie erblickte darin auch ihr eigenes Spiegelbild, ein trauriger Abklatsch ihres früheren Ich — ein viel zu blasses Gesicht, das vor Sorge ganz schmal geworden war. Verloren blickte sie mit ausdruckslosen Augen hinaus auf die schlafende Stadt. Gefühle und jegliches Interesse waren Judy abhanden gekommen. Die Ereignisse der vergangenen Woche hatten sie aller Sicherheit und Charakterstärke beraubt und sie willenlos gemacht. Denn wie Ben war Judy letzten Endes auch nur eine Marionette, die von den hier wirkenden Kräften beliebig gesteuert werden konnte. Aber was waren das nur für Kräfte, die den Bewohnern dieser ruhigen Wohnung von West Los Angeles so übel mitspielten? Waren es übernatürliche Mächte, oder waren es nur Energien, die ihnen beiden innewohnten? Sie preßte ihr Gesicht gegen das kalte Glas. Warum bin ich hier? fragte sie sich gedankenverloren. Wie kam es eigentlich, daß ich in Ben Messers private Katastrophe verwickelt wurde? War es vom Schicksal vorherbestimmt?

Es ist fast, als wären wir beide hier zusammengebracht worden, um dieses eigenartige Stück durchzuspielen. Aber warum? Zu welchem Zweck?

Ohne darüber nachzudenken, drehte Judy sich um und lief durch das Zimmer, wobei sie alle Lichter löschte. Sie verabscheute das Licht; sie wollte Dunkelheit. Es war leichter, sich in der Dunkelheit zu verirren, leichter, in der Dunkelheit Vergessen zu finden. Als sie wieder ans Fenster trat, waren die Spiegelungen verschwunden, und alles, was sie sehen konnte, waren die skelettartigen Bäume, die die Straße säumten und sich im Wind bogen. Draußen sah es kalt aus. Kalt und bedrohlich.