Er kam ein paar Schritte auf sie zu, langte dann hinunter und schaltete das Licht ein.
In diesem Augenblick wurde Judy der Grund für ihre Angst bewußt. Und als sie seine Augen sah, schrie sie auf. Sie schrie sehr lange.
Kapitel Sechzehn
Die Veränderung fiel Judy sofort auf. Bens Augen waren nicht mehr blaßblau, sondern dunkelbraun.
Er stand vor ihr und blickte mit einem Lächeln auf den Lippen fast mitleidvoll auf sie herab.»Judith.«, sagte er mit einer unwiderstehlich weichen Stimme.
Als er sich ihr einen Schritt näherte, wich sie zurück.»Warum fürchtest du dich vor mir, Judith?«
«Ich. «Sie suchte krampfhaft nach einer Antwort. Doch es gab keine. Sie konnte nur verwundert den Kopf schütteln und ihr Herz klopfen hören. Ihre Kehle war vom Schreien heiser geworden. Und nun folgte auf den Schock tiefe Bestürzung.
«Wie kannst du dich nach so langer Zeit noch vor mir fürchten?«fragte er sanft.»Judith. «Ben streckte beide Hände nach ihr aus, und Judy schreckte erneut zurück.»Weißt du denn nicht, wer ich bin?«
«Wer. bist du?«
«Ich bin David«, erklärte er mit einem beteuernden Lächeln.»Nein!«schrie Judy und schüttelte heftig den Kopf.»Sag das nicht!«
«Aber es ist wahr.«
«Und wo ist Ben?«
«Ben? Ach so, der hat niemals existiert. Es hat nie einen Benjamin Messer gegeben.«
«O Gott«, wimmerte Judy. Tränen schossen ihr in die Augen und ließen ihn vor ihr verschwimmen.»Ich will, daß Ben zurückkommt. O Gott, was ist nur geschehen?«
Bens Gesichtsausdruck änderte sich und verriet nunmehr Besorgnis.»Bitte, es ist doch nicht meine Absicht, dich zu erschrecken. Weiche nicht vor mir zurück, Judith. Ich brauche dich.«
«O Ben«, entfuhr es ihr. Als ihre Tränen zu fließen begannen, unterdrückte sie ein Schluchzen.»Was. was ist mit deinen Augen passiert?«
Er zögerte einen Augenblick und überlegte. Dann meinte er lächelnd:»Es ist interessant, nicht wahr, daß sie jetzt eine andere Farbe haben? Ich kann es dir nicht erklären, doch ich nehme an, daß dieser Veränderung eine große Bedeutung zukommt.«
Judy starrte den Mann vor sich verstört an, während sie jede Sekunde erwartete, aus diesem Alptraum zu erwachen.
Er fuhr fort:»Es hat nie einen Benjamin Messer gegeben, weil ich schon immer David Ben Jona war. Ich habe über so viele Jahre hinweg geschlummert. Erst die Schriftrollen haben in mir mein eigenes Ich zum Bewußtsein erweckt und mich daran erinnert, wer ich wirklich war. Und jetzt bin ich zurückgekommen, um wieder zu leben. Verstehst du?«
Nein, es lag nicht nur an seinen Augen; das wurde Judy allmählich klar. Zwar, stellten sie die einzige körperliche Veränderung an ihm dar, doch es hatte sich noch ein anderer Wandel an ihm vollzogen. Es war sein Auftreten, seine ganze Haltung. Ruhig und selbstsicher war dieser Mann, nicht derselbe nervöse, von Ängsten geplagte Mensch, der ihr wenige Stunden zuvor gute Nacht gesagt hatte. Dieser Fremde mit dem blonden Haar und den dunkelbraunen Augen wirkte völlig entspannt und selbstbewußt. Er stand in lässiger Haltung vor ihr und sprach in einem Ton, der einen völlig gelösten und von sich selbst überzeugten Mann verriet.
«Ich weiß, daß es schwer für dich sein muß«, hörte sie ihn sagen,»und daß du Zeit brauchen wirst, um dich an mich zu gewöhnen. Bis jetzt hast du mich ja bloß für einen Geist gehalten. «Er sprach diese Worte mit einem winzigen, kaum wahrnehmbaren Akzent. Deutsch? Hebräisch?
«Wird Ben zurückkommen?«fragte sie im Flüsterton.»Er kann nicht zurückkommen, weil er nie existierte. Weißt du, als ich Benjamin war, glaubte ich zuerst, David verfolge mich. Dann dachte ich, er wolle von mir Besitz ergreifen. Doch diese Annahmen waren falsch, denn ich war ja die ganze Zeit über David. Benjamin war derjenige, den es nie gab.«
Von einer plötzlichen Übelkeit ergriffen, wandte Judy sich jäh von ihm ab und preßte ihre Hand auf den Bauch.»Warum weist du mich zurück?«fragte er fast flehentlich.»Ich. ich weise dich nicht zurück«, hörte sie sich selbst antworten.»Ich lehne es nur ab, dir zu glauben.«
«Aber du wirst es schon noch tun. Siehst du, das erklärt so vieles. Letzte Nacht, als wir die Rolle lasen. «Er ging lässig an ihr vorbei und nahm auf der Couch Platz.»Als wir gestern nacht die Rolle lasen, da fiel mir auf, daß es an dem Abschnitt über Poppäa Sabina etwas Merkwürdiges gab. Erinnerst du dich?«
Da es ihr schwerfiel, laut zu sprechen, flüsterte Judy nur:»Ich erinnere mich.«
«Es gab daran etwas, das ich nicht genau bestimmen konnte. Natürlich weiß ich jetzt, was es war. Poppäa Sabina heißt doch meine Katze, und aufgrund dieses Erlebnisses kam ich darauf, sie nach der Kaiserin zu nennen. Als ich die Katze vor zwei Jahren kaufte, erinnerte sie mich an Neros Frau, die ich in ihrem Streitwagen an mir hatte vorüberfahren sehen.«
Judy kniff die Augen fest zusammen.»Nein«, murmelte sie kaum hörbar.
«Und als du mir die Brille angeboten hast, brauchte ich sie nicht mehr, denn schon letzte Nacht war ich nicht mehr Ben. Ich sah, wie sehr du dich über meinen Zustand beunruhigt hast, aber es gab keinen Grund zur Besorgnis, liebe Judith, da es sich nur um das letzte Stadium meiner Selbstwerdung handelte.«
Sie schlug die Augen auf und starrte ihn an, als wäre er ein Monster.
«Bitte, komm und setze dich zu mir.«
«Nein.«
«Bitte, halte dich nicht von mir fern. Ich hatte nicht die Absicht, dich zu verletzen. Ich dachte, du würdest dich freuen. «Als er traurig den Kopf schüttelte, tauchte im Eingang zur Küche eine kleine schwarze Gestalt auf, die den Mann auf der Couch mit mißtrauischem Blick und stark geweiteten Pupillen beäugte. Poppäa lief vorsichtig ein paar Schritte in seine Richtung, doch als er sich vorbeugte, um sie zu locken, machte sie einen Buckel und fauchte ihn an. Ben lachte nur leise.»Das tut sie, weil ich jetzt ein Fremder für sie bin. Sie wird mich schon noch kennenlernen, und dann werden wir Freunde sein.«
Judy blickte die Katze ungläubig an. Poppäas Fell war gesträubt, ihre Ohren lagen flach am Kopf an. Im nächsten Augenblick schoß sie voller Angst in die Küche zurück, und man konnte hören, wie sie sich in einem kleinen Winkel verkroch.
«Sie wird es schon noch lernen«, ließ sich Bens sanfte Stimme vernehmen.»Und auch du wirst dich daran gewöhnen, liebste Judith. «Judy blickte ihn an und sah ein traurigsüßes Lächeln auf seinem Gesicht. Seine ganze Haltung, sein ganzes Wesen schien um Vergebung und Annahme zu bitten. Und als sie ihn so sah, fühlte Judy, wie ihr Herz ihm entgegenschlug.
«Ich fürchte mich vor dir«, gestand sie schließlich.»Aber das mußt du doch nicht. Ich würde dir nie etwas zuleide tun.«
«Ich weiß nicht, was du bist. Ich weiß nicht, wer du morgen oder selbst in der nächsten Stunde sein wirst. Und das macht mir Angst.«
«Aber es ist alles vorbei, Judith, siehst du das nicht? Kein Identitätskampf und kein Bemühen um Selbstfindung mehr. Die Höllenqualen, die Benjamin Messer durchstehen mußte, die Alpträume und die Tränen und die quälenden Gedanken waren nichts anderes als die Schmerzen meiner Geburt. Es war notwendig, daß er, daß ich all dies erduldete, damit ich wiedergeboren werden konnte. All das gehört nun der Vergangenheit an, meine liebe Judith, denn ich bin jetzt eins mit mir selbst und mit meiner Persönlichkeit ins reine gekommen. Ich hoffte, du würdest verstehen.«
Sie musterte ihn noch ein wenig länger und näherte sich dann vorsichtig und behutsam der Couch. Während sie sich auf der äußersten Kante, so weit wie möglich von ihm entfernt, niederließ, hielt sie fortwährend die Augen auf ihn gerichtet. Endlich flaute ihre Übelkeit ab, und die Unruhe verebbte. Die erste Erschütterung war vorüber, und jetzt ließ auch die Bestürzung nach. Statt dessen fühlte sich Judy unsicher, weil sie nicht wußte, was sie als nächstes tun sollte. Ben streckte seine Hand aus, als wollte er ein Geschenk überreichen. Judy ergriff sie und fühlte, wie sie noch ruhiger wurde. Er lächelte ihr beruhigend zu und erweckte den Anschein von völliger Kontrolle und Selbstvertrauen. Seine Hand war warm und zart, seine Stimme ermutigend.»Was sich verändert hat, hat sich verändert, und es gibt keinen Weg zurück. Was gestern war, wird nie wiederkehren. Benjamin Messer lebt nicht mehr. Ich war nicht glücklich in dem Leben von damals. Aber in diesem hier bin ich es. «Judy spürte, wie er ihre Hand drückte und sie ein wenig zu sich hin zog. Zuerst wehrte sie sich, gab dann aber nach und ließ es zu, daß er sie auf der Couch nahe an sich heranholte. Er hielt sie mit beiden Armen umschlungen, aber so leicht, als befürchtete er, sie zu zerbrechen, und er sprach mit gefühlvoller Stimme:»Du kannst mich doch unmöglich als Ben gemocht haben, denn dieser Ben war ein geplagter Mann.