Er war ein Mensch, der seine Vergangenheit und sein Erbe verleugnete und der immer etwas sein wollte, was er nicht war. Benjamin Messer war nur eine Seite meiner Persönlichkeit, und es tut mir leid, daß du gerade diese kennenlernen mußtest. Nun, da ich David Ben Jona bin. «Er zog sie an sich und drückte ihr Gesicht gegen seinen Hals.»Doch nun, da ich endlich David Ben Jona bin, kannst du, teure Judith, in deinem Herzen vielleicht ein wenig Liebe für mich finden.«
Als Judy erwachte, lag sie im Bett. Obgleich sie noch alle Kleider anhatte, war sie zugedeckt, und ihre Schuhe standen fein säuberlich neben dem Bett. Ein ermutigend heller Tag flutete durchs Fenster und brachte die noch an der Scheibe hängenden Regentropfen zum Glitzern. Durch das Geäst der Bäume hindurch konnte sie weiße Wolken und blauen Himmel erkennen. Und durch die offenstehende Tür hörte Judy, wie jemand im angrenzenden Zimmer herumhantierte. Ihre Gedanken überschlugen sich. Obgleich ihr die unheilvollen Ereignisse der letzten Nacht auf Anhieb wieder einfielen, konnte sie sich nicht daran entsinnen, ins Bett gegangen oder eingeschlafen zu sein. Das letzte, woran sie sich erinnerte, war, daß sie mit Ben eng umschlungen auf der Couch gesessen und seiner sanften Stimme gelauscht hatte, die auf unwiderstehliche Weise von Liebe gesprochen hatte.
Sie war sich unschlüssig, ob sie aufstehen sollte. Sie fürchtete sich vor dem, was sie vielleicht im Nebenzimmer vorfinden würde. Bens Wahnsinn konnte in jede Richtung losbrechen; seine vorübergehende Festigkeit konnte durch die leichteste Herausforderung ins Wanken geraten. Doch obwohl es ihr widerstrebte, ihm gegenüberzutreten, verlangte es sie danach, an seiner Seite zu bleiben und über ihn zu wachen. Sie steckte in einem unüberwindlichen Zwiespalt der Gefühle: Einerseits verspürte sie den Drang, aus diesem Irrenhaus zu fliehen; andererseits hegte sie den Wunsch, Ben zu helfen, die Krise durchzustehen. Sie stand geräuschlos auf und schlich leise ins Bad, um von ihm nicht gesehen zu werden. Judy versuchte, eine Entscheidung zu treffen, was sie als nächstes tun sollte.
Unter der kühlen Dusche wichen die Erinnerungen an die unheilvolle vorangegangene Nacht einer analytischen Betrachtungsweise. Als sich ihre Schläfrigkeit verlor und der Schrecken allmählich nachließ, fühlte Judy sich eher in der Lage, die Situation zu meistern. Immerhin hatte Ben — in seiner neuen Identität als David — noch keine Neigung zu Gewalttätigkeiten erkennen lassen. Und wenn er seine gegenwärtige Ruhe und Gelassenheit beibehielte — zumindest bis die letzte Rolle gelesen war —, könnte sie gut mit ihm fertig werden. Was danach geschehen würde, konnte sie sich nicht im geringsten vorstellen. Und es war ihr im Augenblick auch gleichgültig. Momentan ging es für sie und Ben allein darum, einen weiteren Tag irgendwie durchzustehen.
Er schaute auf, als sie ins Zimmer kam, und verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen.»Guten Morgen, Judith. Fühlst du dich besser?«
«Ja, danke. «Sie musterte ihn vorsichtig.
«Du bist in meinen Armen eingeschlafen, und da habe ich dich ins Bett getragen. Du bist so leicht; es war, wie wenn man ein Kind hochhebt.«
Als er sprach, starrte Judy ihn mit wachsender Faszination an. Der Mann vor ihr war, mit Ausnahme der braunen Augen, in jeder Hinsicht Benjamin Messer. Nur war es nicht.
Er kam auf sie zu und ergriff ihre Hand. Dann führte er sie zum Eßtisch.
Nein, dieser Mann war zweifellos verändert. Er mochte genauso aussehen wie Ben Messer, unterschied sich aber von ihm durch sein ganzes Verhalten. Die Gebärden und das zuweilen etwas gespreizte Benehmen gehörten zu einem anderen. Und seine Art, sich zu geben, war völlig neu. Dieser Mann erschien älter, reifer und auffallend selbstsicher. Er war ein Mensch, der sich selbst voll unter Kontrolle hatte und es gewohnt war, den Ton anzugeben. Er setzte sich an den Tisch vor eine dampfende Tasse Kaffee und einen Teller mit Eiern und Buttertoast. Während er ihr gegenüber Platz nahm, erklärte er:»Ich habe schon gegessen. Bitte, laß es dir schmecken, du wirst dich gleich besser fühlen. «Judy merkte beim Essen, wie hungrig sie eigentlich war. Gierig verschlang sie das Frühstück und stürzte zwei Tassen Kaffee hinunter. Während sie aß, hielt Ben/David seinen beunruhigenden Blick ständig auf sie geheftet und ließ sie keine Sekunde aus den Augen. Ein kaum merkliches heimlichtuerisches Lächeln umspielte die ganze Zeit über seinen Mund. Zweimal wollte sie etwas sagen, doch jedesmal hob er eine Hand und meinte:»Iß zuerst. Später werden wir uns unterhalten. «Und sie gehorchte.
Anschließend gingen sie zusammen ins Wohnzimmer, das zu Judys Überraschung mit peinlicher Gründlichkeit gereinigt worden war. Sogar der Weinfleck auf dem Teppich erschien blasser, und alles wirkte sauber und ordentlich. Ohne nachzusehen, vermutete sie, daß es im Arbeitszimmer wohl genauso aussah.
Als sie sich auf der Couch niederließen, sagte Ben:»So, nun fühlst du dich sicher besser. Ist es dir jetzt immer noch unbehaglich, mit mir zusammen zu sein?«
«Ich weiß nicht«, antwortete sie unsicher.»Bist du.?«Er lachte herzlich.»Ja, ich bin noch immer David. Ich habe dir doch gestern nacht gesagt, daß Ben fort ist und nie mehr wiederkommt. Aber ich sehe ein, daß es Zeit braucht, dich davon zu überzeugen. Das ist schon in Ordnung, denn ich bin ein geduldiger Mensch. «Judy lehnte sich bequem auf der Couch zurück. Jetzt, da sie gegessen hatte, fühlte sie sich wirklich besser und überlegte, was sie als nächstes sagen sollte.»Wenn du David Ben Jona bist«, begann sie vorsichtig,»dann kannst du mir ja sicher verraten, was in der nächsten Rolle steht?«
Er lächelte vielsagend.»Du willst mich auf die Probe stellen, Judith. Das ist ein Zeichen von Ungläubigkeit, und ich will, daß du an mich glaubst. Tust du das?«
«Du weichst meiner Frage aus.«
«Und du meiner.«
Judy drehte sich um, so daß sie ihm direkt ins Gesicht sehen konnte.»Ich habe keine Lust, Wortspiele mit dir zu veranstalten, Ben. Ich versuche nur zu verstehen, was passiert ist. Du behauptest, du seist jetzt der wiedergeborene David. Ist das richtig?«
«Wenn dir diese Ausdrucksweise zusagt, ja. Aber es ist mehr als eine Wiedergeburt, mehr als eine Wiederverleiblichung, denn, siehst du, ich war ja nie wirklich fort. Als Benjamin Messer bin ich die ganze Zeit über hier gewesen.«
«Ich begreife.«
«Das glaube ich nicht.«
«Nun, zumindest versuche ich es. «Sie lehnte sich zurück und betrachtete ihn wieder.
Ja, diese neue Persönlichkeit war zweifellos umgänglicher. Benjamin Messer war ein Mensch gewesen, der von seiner Vergangenheit gequält wurde und mit dem man nur schwer auskommen konnte. Als David von ihm Besitz ergriffen hatte, war er still und in sich gekehrt. Doch dieser neue Zustand, in dem er nun tatsächlich den Juden verkörperte, war beinahe angenehm. Er wirkte vernünftig, war mitteilsam und schien einigermaßen gefestigt.
Wenn er nur nicht plötzlich wieder in eine andere Zeit abglitt oder von Gedächtnisschwund heimgesucht würde; wenn er keine Wutausbrüche bekam, wie Ben sie zuvor gehabt hatte, dann wäre diese neue Entwicklung möglicherweise nur von Vorteil. Zumindest im Augenblick.