«Und wie soll es weitergehen?«fragte sie ruhig.»Das kann ich nicht wissen. Die Zukunft ist mir ebenso unbekannt wie dir.«
«Aber gewiß kannst du nicht als Ben Messer weitermachen.«
«Und warum nicht? Der Name hat mir bis jetzt gute Dienste geleistet. Ich kann die Identität auch noch eine Weile länger benutzen, bis ich mir über meine Pläne klar werde. Doch wie dem auch sei, liebe Judith«, er griff nach ihrer Hand,»sie werden dich mit einschließen. «O Ben, schrie sie innerlich voller Verwirrung, ich will, daß du mich immer mit einschließt! Und ich liebe dich über alles. Aber was bist du jetzt? Wer bist du? Und wer wirst du morgen sein?» Warum schaust du so traurig, Judith?«Sie wandte ihr Gesicht ab.»Weil ich Ben liebe.«
«Aber ich bin doch der gleiche Mann.«
«Nein«, entgegnete sie schnell,»nein, das bist du nicht.«
«Nun. «Seine Stimme wurde leiser.»Kannst du in deinem Herzen nicht auch ein wenig Liebe für mich finden?«
Sie wandte sich jäh um. Auf seinem Gesicht spiegelten sich Sehnsucht und sanfte Trauer wider. Sie spürte, wie er mit den Fingerspitzen ihre Wange streichelte, hörte seine liebevolle Stimme. In ihren Augen war es Ben, der da ungeschickte Versuche unternahm, mit ihr zärtlich zu werden, doch im Herzen wußte sie, daß es ein anderer Mann war. In seinem Identitätskampf hatte Ben die Schlacht verloren und auf sonderbare Weise die Persönlichkeit des Mannes aus den Schriftrollen angenommen. Aus welchen unausgesprochenen Bedürfnissen und verborgenen Gründen heraus es auch geschehen sein mochte, Ben hatte sich nun einmal entschlossen, David zu werden, einfach, weil er nicht mehr stark genug war, als Ben weiterzuleben.»Ich will dich zurück«, flüsterte Judy in einem letzten Versuch, auf ihn einzuwirken.»Schick David dorthin zurück, wo er hingehört, Ben, und komm zurück zu mir.«
Doch der Mann, der sie weiter geheimnisvoll anlächelte und mit seinen tiefsinnigen, dunklen Augen liebevoll anblickte, war nicht Benjamin Messer.
Es war unvorstellbar, daß die nächste Rolle an diesem Nachmittag eintreffen würde, und doch war es so. Nummer zwölf kam wie gewöhnlich als Einschreiben und erforderte die übliche Unterschrift. Aber diesmal wurde sie anders in Empfang genommen. Anstelle der Erregung und Unruhe, die Ben beim Erhalt der vorangegangenen Rolle an den Tag gelegt hatte, wurde Rolle Nummer zwölf mit Gelassenheit und stiller Freude entgegengenommen. Ben stieg in aller Seelenruhe die Treppe hinauf und betrat die Wohnung. Dann lief er voll Bedacht umher, legte Heft und Bleistift zurecht und stellte das Licht richtig ein. Pfeifenhalter, Tabaksbeutel und Aschenbecher waren vom Schreibtisch entfernt und aus dem Blickwinkel verbannt worden — sie waren nicht länger notwendig. Poppäa Sabina, die sich auf dem Drehstuhl zusammengerollt hatte, machte einen Buckel und fauchte Ben an, als er sich näherte. Dann sprang sie vom Stuhl und schoß wie ein Pfeil aus dem Zimmer. Ben schüttelte nur den Kopf.
Judy blieb zögernd an der Tür stehen und beobachtete ihn, wie er sich langsam darauf vorbereitete, die nächste Rolle in Angriff zu nehmen. Das war nicht der Ben, den sie früher gekannt hatte, der zu diesem Zeitpunkt die Fotos schon herausgezerrt, den Umschlag auf den Fußboden geworfen und bereits die ersten Worte übersetzt hätte, noch bevor er sich hingesetzt hatte.
Als er aufblickte und sie im Türrahmen stehen sah, fragte er:»Bist du nicht interessiert?«
«Doch schon.«
«Nun, dann komm und setz dich neben mich. Lies, während ich schreibe. Wir werden diese Tage meines Lebens noch einmal miteinander durchleben.«
Während Judy einen Stuhl heranzog und sich neben ihn setzte, murmelte sie:»Weißt du nicht bereits, was darin steht?«Doch er gab keine Antwort.
Rolle Nummer zwölf befand sich in erbärmlichem Zustand. Sie setzte sich aus sechs Bruchstücken zusammen, deren Kanten zerfressen waren; mitten auf der Seite klafften Löcher, und stellenweise war die Handschrift unleserlich. Doch was verblieb, war noch immer ein großer Teil und sehr informativ.
Ich kehrte heim in ein von politischen Unruhen geschütteltes Judäa. Meine Landsleute sahen sich immer weniger imstande, die Anwesenheit unserer römischen Oberherren hinzunehmen, und ich gewahrte überall Anzeichen des Aufruhrs. Salmonides und ich waren beide zutiefst erschrocken, als wir entlang der Straße nach Joppe so viele Kreuze sahen, und fragten uns verwundert, ob die Zelotenbewegung in unserer Abwesenheit derart Zulauf bekommen hatte. Wir sahen auf den Straßen auch wesentlich mehr römische Legionen als früher, viele von ihnen bis zu den Zähnen bewaffnet und von Rom neu ausgerüstet, und wir erkannten, daß uns unruhige Zeiten bevorstanden.
Aber nach einer Abwesenheit von so vielen Monaten war es schön, wieder unter Freunden zu sein und meine Lieben in die Arme zu schließen. Sie hatten sich alle in meinem Haus zusammengefunden: Saul und Sara und der kleine Jonathan; Rebekka und unsere Freunde von den Armen und sogar Jakob, der in seinen weißen Gewändern abseits der Gruppe stand und sich in asketisches Schweigen hüllte. Saul wusch meine Füße, als ich hereinkam, und ich bemerkte, daß er Tränen in den Augen hatte. Er sprach:»Wahrlich, es ist ein freudiger Tag, der mir meinen Bruder zurückgebracht hat! Wir haben dich vermißt, David, und jeden Tag gebetet, daß dir in Babylon nichts zustoßen möge.«
Ich bemerkte, daß er seine besten Kleider trug und daß er seinen Gesetzesunterricht heute hatte ausfallen lassen, um den ganzen Tag mit mir zu verbringen. Dann kam Rebekka zu mir. Sie fiel mir um den Hals und küßte mich und ließ ihre Tränen ungehindert auf meine Schulter fließen. Wenn sie auch tief im Herzen vor Sorge vergangen war, so sprach sie es dennoch nicht aus. Auch erinnerte sie mich mit keinem Wort an die Einsamkeit, unter der sie in meiner Abwesenheit gelitten hatte. Rebekka war eine gute Frau, die wußte, daß ich aus Notwendigkeit gehandelt hatte.
So hielt ich sie auf Armeslänge von mir weg und versprach:»Es wird in Zukunft keine Reisen nach Rom mehr geben, meine Liebste, denn ich habe genug gesehen.«
Als nächster begrüßte mich der kleine Jonathan, dessen Wiedersehensfreude keine Grenzen kannte. Er drückte mich an sich und küßte meine Wangen und plapperte, ohne Luft zu holen, über all die Dinge, die ich versäumt hatte, während ich weg gewesen war. Und mein Herz lachte vor Freude, ihn zu hören und ihn anzuschauen, denn ich liebte den kleinen Jonathan innig. Er hatte Sauls Gabe, schnell Freundschaft zu schließen, und er hatte das schöne Gesicht seiner Mutter. Doch tief im Herzen wußte ich, daß ich Jonathan so übermäßig liebte, weil ich noch immer kein eigenes Kind hatte und daran schier verzweifelte.
Als Sara zu mir trat, um mich willkommen zu heißen, wurden meine Knie weich, und mein Herz schrie auf, denn sie war noch immer die eine Frau, die ich über alles liebte, und es war ihr Bild gewesen, das ich in den endlosen Nächten auf See vor mir gesehen hatte. Seitdem sie den Armen beigetreten war und viel Zeit in der Gesellschaft von Miriam und den anderen Frauen verbrachte, war Sara noch schöner und strahlender geworden, Ihr Glaube an Gott und an die Wiederkehr des Königreichs Israel hatten ihr eine besondere innere Schönheit und eine Ruhe verliehen, die sich in ihren Augen widerspiegelten.
Seit dem Tag im Olivenhain hatten wir nie wieder von Liebe gesprochen. Doch man kann sich einander auch auf andere Art als durch Worte mitteilen, und an diesem Tag sah ich auf ihrem Gesicht und in ihren Augen, daß sie mich noch immer liebte. Jakob, der Führer der Armen, wartete, bis alle mich begrüßt hatten, bevor er selbst zu mir trat und mir den Friedenskuß gab. Dann sprach er:»Bruder, es bereitete uns großen Kummer, dich in Babylon zu wissen, während wir stets in dem Bewußtsein lebten, daß das Königreich Gottes nahe bevorstand. Josua wird vielleicht schon morgen vor den Toren Jerusalems stehen, und wir befürchteten, daß du an diesem glorreichen Tage noch immer fern von uns weilen könntest. Aber jetzt bist du zurück und wirst das zweite Kommen des Messias nicht versäumen.«