Irgendwie schlug ich mich bis Magdala durch — wie, das werde ich wohl niemals erfahren. Es gab da eine nicht zu mir gehörende Kraft, die mich lenkte, denn wenn es allein nach mir gegangen wäre, hätte ich mich am Wegrand niedergelegt und wäre wohl schon lange tot. Doch mein Überleben entsprach weder meinem eigenen Wunsch, noch war es dem Schicksal zuzuschreiben. Und trotzdem erreichte ich schließlich das leere Haus meines Vaters und ein Dorf, das von Krieg und Plünderung gezeichnet war. Aus der verlassenen Synagoge nahm ich diese Schriftrollen, denn plötzlich wußte ich, welchem Zweck ich dienen sollte. Gott der Herr hatte mich nur aus einem Grund gerettet: Ich sollte alles, was geschehen war, nieder schreiben. Warum ich dies tun sollte, weiß ich auch nicht. Doch ebenso wie es der Plan des Herrn war, daß du mein Sohn sein solltest, Jonathan, so muß es auch sein Plan gewesen sein, daß du das Leben deines Vaters in allen Einzelheiten erfahren solltest. Und so habe ich alles für dich aufgeschrieben. Wenn Sara dir die Wahrheit sagt, wirst du vielleicht kommen und nach mir suchen. Und auf der Suche wirst du diese Schriftrollen finden. Und erinnere dich, mein Sohn: Nicht dir obliegt es, zu richten, sondern Gott allein. Und Gott war es auch, der das Schicksal vorherbestimmte, das Jerusalem widerfuhr. Denn wie schon der Prophet Jesaja sagte:»Siehe, der Herr leert und verheert die Erde, er kehrt ihr Angesicht um und zerstreut ihre Bewohner. Die Erde wird entleert und völlig ausgeplündert; denn so hat der Herr Wort gesprochen. Nur Verödung ist in der Stadt zurückgeblieben, in Stücke ist das Tor zerschlagen. «Sei dir stets eingedenk, mein Sohn, daß du ein Jude bist, so wie ich ein Jude bin, so wie mein Vater ein Jude war. Du wirst auch weiterhin auf den Messias warten. Ich weiß, daß Sara es dich lehren wird. Und an dieser Stelle muß ich dich noch einmal eindringlich warnen: Schaue nicht nach Rom. Wir in Jerusalem waren diejenigen, die den Meister zu seinen Lebzeiten kannten, doch mit uns ist es jetzt vorbei. Simon ist tot, Jakobus ist tot, und von den Zwölfen sind auch alle tot. Es lebt heute niemand mehr, der ihn kannte. In deiner jugendlichen Unschuld, fürchte ich, wirst du deinen Blick auf die Heiden richten, denn auch sie benutzen das Wort Messias. Aber halte dir stets vor Augen, mein Sohn, daß sie uns nur nachgeahmt haben. Während Jerusalem auf einen Mann wartete, wartet Rom auf ein Traumbild.
Denke stets an folgendes Gleichnis: Vorzeiten wuchs eine starke und mächtige Eiche, die eines Tages ein Samenkorn auf die Erde fallen ließ. Daraus entstand ein neuer Schößling. Eines Tages schlug der Blitz in die große Eiche ein und zerstörte sie, bis nichts von ihr übrigblieb. Der neue Schößling, der nicht getroffen worden war, wuchs weiter. Doch wächst er unabhängig vom Elternbaum und entwickelt sich auf eine andere Weise.
Eines Tages, wenn der Sproß zu stattlicher Größe emporgewachsen ist, wird ein Mann vorüberkommen und sagen:»Hier steht eine mächtige Eiche«, und er wird nicht wissen, daß dicht daneben einst eine mächtigere stand.
Höre, Israel, der Herr unser Gott ist ein einziger Gott! Kann es sein, daß noch ein wenig Würde in David Ben Jona übrig ist, die ihm die Gnade des Gottes Abrahams sichert? Gewiß träume ich! Sicherlich ist dies der Tag der Tage! Bin ich verrückt geworden, oder habe ich heute morgen tatsächlich mit meinem alten Freund Salmonides gesprochen, der wie ein Geist aus der Vergangenheit vor mir auftauchte? Und die unglaubliche Geschichte, die er mir erzählte! So glücklich war der alte Grieche, mich zu sehen, daß er sich diesem gemeinen Menschen vor die Füße warf und beteuerte, er habe mich gesucht.
In, meiner äußersten Verblüffung sagte ich ihm, daß ich ein verachtenswerter Mensch sei und daß ich den Urteilsspruch des Herrn erwarte, der meinen Tod bedeute.
Darauf meinte dieser anmaßende Bursche:»Dann habt Ihr Euren Gott wohl falsch eingeschätzt, Meister, oder ist er vielleicht zu beschäftigt damit, Jerusalem zu zerstören, und hat Euch vergessen? Denn Ihr werdet nicht sterben, und Ihr seid auch kein verachtenswerter Mensch. Es gibt Leute, die Euch lieben. «Und er fuhr fort mit seiner unglaublichen Geschichte, wie er des Nachts aus Jerusalem geflohen war, wie er das Vermögen, das er in all den Jahren an mir verdient hatte, dazu benutzt hatte, sich durch Bestechung freies Geleit durch die feindlichen Linien zu verschaffen, und wie er außer seinem eigenen noch zwei andere Leben gerettet hatte.
Und ich glaubte, meinen Augen nicht zu trauen, als ich im nächsten Augenblick Sara und Jonathan vor mir stehen sah.
Ben stieß einen Schrei aus, fiel vom Stuhl und landete krachend auf dem Fußboden. Sein Körper bebte heftig und zuckte, wie von einem Anfall ergriffen. Als Judy, die sofort auf den Knien neben ihm war, versuchte, ihn aufzurichten, murmelte er:»Nein. es gibt noch mehr. Ich. muß lesen.«
Der Schweiß rann an seinem aschfahlen Gesicht herunter. Seine Augen waren weit aufgerissen und starrten ins Leere. Er schien die junge Frau, die sich mit ihm abmühte, vergessen zu haben und schien sich auch gar nicht bewußt zu sein, daß er irgendwie wieder auf die Beine kam und sich Halt suchend auf den Schreibtisch stützte. Bens Hemd war durchnäßt. Er atmete schwer, als wäre er meilenweit gerannt.»Muß zum Schluß kommen. muß lesen.«
«Du mußt ein wenig aussetzen, Ben, du machst dich krank!«Der Klang ihrer Stimme ließ ihn aufhören zu zittern. Er wandte sich zu ihr um und schaute sie auf höchst seltsame Weise an.»Judy«, flüsterte er. Dann fiel er auf seinen Stuhl zurück und verbarg sein Gesicht in den Händen.
Judy kniete vor ihm und wischte ihm den Schweiß ab, der ihm von Gesicht und Nacken strömte. Auch sie selbst war schwach, blaß und erschöpft. Zusammen hatten sie das Martyrium Jerusalems miterlebt.
«Judy.«, murmelte er in seine Hände.»Ich erinnere mich daran. Ich erinnere mich an alles.«
«Du erinnerst dich woran?«
Schließlich blickte er zu ihr auf. Seine Augen waren von einem eisigen Blau und voller Verwunderung.»Ich erinnere mich daran, daß ich dachte, ich sei David. Ich erinnere mich daran, daß ich wirklich David war. O Gott, was ist nur mit mir geschehen? Was ist mit uns geschehen?«
Ihre Lippen bewegten sich, doch sie brachte kein Wort heraus. Dann, nach einem langen Stillschweigen, meinte Ben ein wenig traurig:»Es ist alles vorbei. David ist weggegangen.«
«O Ben. «Sie zitterte vor Erleichterung.
«Ich weiß nicht, woran ich es erkenne, aber ich erkenne es. Ich kann es dir nicht erklären. Vielleicht werden wir eines schönen Tages das Rätsel lösen. Ich frage mich. «Ben ergriff ihre Hände und schaute ihr lange in die Augen.»Welche Rolle spieltest du dabei, Judy? Wäre das alles geschehen, wenn ich dich nicht getroffen hätte? Warst du die Ursache dafür oder nur ein Katalysator?«
Sie blickte erstaunt zu ihm auf. Jetzt waren sie wieder am Ausgangspunkt angelangt, wo sie vor vier Wochen begonnen hatten.
«Ist David je wirklich hier gewesen?«murmelte Ben.»Oder war ich es die ganze Zeit? Aber diese merkwürdigen Übereinstimmungen. «Er nahm Judys Gesicht in seine Hände, küßte ihren Mund und flüsterte:»Ich liebe dich. «Sie lächelte und erwiderte seinen Kuß.