Allerdings konnte er beobachten, wie sich das Gesicht des Königs verfinsterte. Wahrscheinlich hatte Philipp darüber nachgedacht, wie man den Hospitalitern einen Teil des Templervermögens entreißen könne. Aber Nogaret, der als Jurist sehr wohl wusste, wie weit sich Gesetze verdrehen lassen konnten, verfolgte einen anderen Plan. »Vielleicht waren einige von euch Augenzeugen, als die beiden Großmeister des Templerordens in Paris auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Sie waren nicht nur verstockt und bereuten ihre Sünden nicht, sondern schleuderten gegen unseren König einen gotteslästerlichen Fluch.«
»Mögen sie für ewig in der Hölle weiterbrennen!«, rief einer der Ritter. Als der Kanzler ihm zustimmend zunickte, wiederholten die anderen schreiend diese Verwünschung.
Der Kanzler erhöhte die Lautstärke seiner ohnehin durchdringenden Stimme. »Alle Templer sind verhaftet worden und haben ihre gerechte Strafe gefunden. Aber noch läuft einer frei herum, den man als einen der schlimmsten bezeichnen kann. Wenn wir seiner nicht habhaft werden und ihn auf den Scheiterhaufen bringen, wird unser Kampf gegen diese Ketzer vergeblich gewesen sein.«
Nogaret machte eine Pause, um die Wirkung seiner Worte abzuschätzen.
Im Raum war es sehr still geworden. Wer mochte dieser verbrecherische Mensch sein? Ein Sodomist? Ein Folterknecht? Ein Gotteslästerer? Ein Brudermörder? Ein Verbündeter des Teufels oder gar ein Brunnenvergifter, wie man es den Juden nachsagte?
Der Kanzler hatte berechtigte Zweifel, ob sein Vorwurf diese schwerwiegenden Anklagen übertreffen könne. Er musste übertreiben und gab sich Mühe, erschüttert zu wirken. »Der Name dieses Mannes ist Henri de Roslin. Er ist durch die harte Schule der Templer gegangen, kennt weder Hunger noch Durst, empfindet weder Hitze noch Kälte. Seine Augen sprühen Feuer. Seine Faust ist härter als Eisen. Man könnte beinahe meinen, dass es sich bei ihm um den leibhaftigen Gottseibeiuns handelt. Er hat die höchsten Weihen des Ordens empfangen. Aber nicht nur das, sondern die Großmeister haben ihn zum Verwalter ihres immensen Vermögens gemacht.«
Der Kanzler hielt noch einmal inne, schaute in die Runde und sah nur erschreckte Gesichter. Er war mit seiner Redekunst zufrieden und fuhr fort: »Das Vermögen, das diese Ausgeburt der Hölle für den Orden zusammengeschachert hat, stammt von armen Frauen, die er seiner Gewalt unterwarf und die seinen brutalen Machenschaften nur entkommen konnten, wenn sie ihm ihre letzten Münzen übergaben. Er schändete junge Mädchen und bedrohte sogar die Neugeborenen in der Wiege. Die Männer, die seinen Befehlen nicht folgen wollten, spießte er wie Gekreuzigte am Scheunentor auf.«
Nogaret war in Fahrt gekommen. Er schilderte eine Scheußlichkeit nach der anderen und scheute auch nicht vor Perversitäten zurück. »Denkt daran, die Templer beteten nicht Gott, sondern ihren Teufel Baphomet an!« Als er beobachtete, dass sich seine Zuhörer vor Ekel schüttelten, setzte er zum Fazit seines Vortrags an. »Nur eingeweihten Kreisen, zu denen nun auch ihr gehören werdet, ist bekannt, dass irgendwo ein unermesslicher Schatz verborgen ist, zu dem nur Henri de Roslin Zugang hat. Wir müssen ihn finden, damit ihr alle als königstreue Gefolgsleute an diesem Schatz teilhaben könnt!«
Mit einem Seitenblick konnte er beobachten, dass Philipp grinste. Darum fuhr er angefeuert in seiner Rede fort. »Zieht aus und sucht diesen Henri de Roslin, diesen Teufel in Menschengestalt! Wenn ihr ihn gefunden habt, stellt ihm eine Falle, denn er ist sehr schlau. Ich weiß, dass ihr alle tapfer seid. Trotzdem wagt nicht, es allein mit ihm aufzunehmen! Versucht mit falscher Zunge, ihn an den königlichen Hof zu locken! Glaubt mir, wir werden ihn schon zum Reden bringen!«
Jetzt endlich löste sich die Anspannung in ohrenbetäubendem Geschrei. Es gab keine Foltermethode, die man nicht anwenden wollte, um diesen Verbrecher zu bestrafen. Nur die Zunge, so mahnte der Kanzler, dürften sie ihm nicht herausschneiden. Denn dann könne er ihnen nicht das Versteck des ungeheuren Templerschatzes verraten.
Es dauerte eine Weile, bis in diesem Tumult ein lautes Pochen an der Tür vernehmbar wurde. Augenblicklich trat Stille ein. Alle sahen sich erschreckt an.
»Das ist der Teufel«, flüsterte ein älterer Ritter.
Aber als der Kanzler die Tür aufriss, trat ein Diener des Königs ein und schaute verängstigt in die Runde. Offenbar fürchtete er, dass ihn sein Herr mit einer Ohrfeige wieder nach draußen befördern würde, weil er es wagte, die Ratsversammlung zu stören.
Langsam näherte er sich dem König, machte ängstlich eine ungeschickte Verbeugung, blieb aber vorsichtshalber außer Reichweite stehen. Mit zitternder Stimme teilte er mit, ein Gast bitte darum, vorgelassen zu werden.
Philipp zeigte sich in höchstem Maße ungnädig. »Dummkopf! Ich erwarte keinen Gast. Der ungebetene Eindringling soll seinen Namen nennen oder ein Billett überreichen, auf dem sein Anliegen vermerkt ist.«
Der Kanzler handelte jedoch eilig ohne Auftrag. Er zog sein Schwert aus der Scheide und schickte sich an, dem Diener in die Vorhalle zu folgen. An der Tür wandte er sich noch einmal um und verneigte sich vor dem König. Es gelang ihm sogar, seinem Eingreifen eine ungeheure Bedeutung zu verleihen. »Seid ohne Sorge, mein König! Gleich werden wir wissen, welcher ungebetene Gast hier so unverfroren Einlass begehrt. Ich werde nicht zögern, diesen Kerl wie einen räudigen Hund vom Hof zu jagen.«
6
Mehrere Tage und Nächte waren vergangen, seitdem Joshua, Henri und sein Knappe die Abtei Cadouin verlassen hatten. Sean hatte bisher keine Müdigkeit gezeigt. Ganz im Gegenteil! Wenn der Jude traurig im Sattel hing und das Schicksal eines heimatlosen Flüchtlings beklagte oder wenn Henri sich besorgt über seine Landkarte beugte, heiterte der kleine Schotte seine Gefährten immer wieder mit einem lustigen Lied auf.
»Du hast eine wunderschöne Stimme«, hatte Henri einmal gesagt. »Alle Damen werden entzückt sein, wenn du eines Tages vor ihren Fenstern Minnelieder singst.«
»Was ist das, Minne?«, fragte Sean.
»Das erkläre ich dir, wenn es so weit ist«, vertröstete Henri seinen Knappen.
Als sich die Dämmerung schneller als erwartet ausbreitete, brachte Henri sein Pferd zum Stehen. »Wir müssen hier die Nacht verbringen«, teilte er den anderen beiden mit. Weit und breit schien es keinen Weiler zu geben, wo sie Unterschlupf finden konnten. Henri fürchtete sogar, dass sie den Weg verfehlt hätten. »Die Nacht ist lau, und wir werden ein Lagerfeuer anzünden. So können wir nicht frieren.«
Mit sichtbarem Eifer trug Sean Äste und dürre Zweige zusammen. Henri nahm ihn in den Arm. »Ich habe wirklich großes Glück, so einen Knappen wie dich gefunden zu haben. Wenn du nicht zu müde bist und gerne Geschichten hörst, werde ich dir erzählen, wie man mich in den Templerorden aufgenommen hat und was ich dort erlebt habe. Da wird uns die Nacht nicht lang werden.«
Sean klatschte vor Freude in die Hände und sprang ungestüm an Henri hoch. »Du bist der beste Herr, den man sich vorstellen kann.«
Henri warf einen Seitenblick auf Joshua. Anscheinend trauerte der jüdische Gelehrte immer noch, weil er seine Forschungen in der Bibliothek von Cadouin nicht fortsetzen konnte. Tröstend legte Henri einen Arm um die Schulter seines Gefährten. »Sei nicht gar zu betrübt! Sieh dir den Mond an! Er nimmt ab und zu in stetem Wechsel. Oft ist er in der Schwärze der Nacht nicht sichtbar. Aber wenige Tage später sendet er wieder sein mildes Licht. So ist es auch mit unserem Leben. Wenn dir jetzt alles düster erscheint, so wird es auch für dich wieder hell werden.«
Joshua erwiderte lächelnd die freundschaftliche Gebärde. »Ich sollte mich schämen und bin es nicht wert, gelehrter Philosoph genannt zu werden.«
Sean schleppte einen dicken Stamm herbei und wuchtete ihn auf die Feuerstelle. Er wickelte sich in seine Satteldecke und sah Henri erwartungsvoll an. »Es kann losgehen!«