Der Junge machte ein beleidigtes Gesicht, wagte aber nichts zu erwidern.
Joshua sah sich nach seinen Begleitern um. »Seid ihr einverstanden, wenn wir die Pferde zum Ritt über die Ebene in Galopp versetzen?«
Henri wollte schon nicken, stellte sich aber plötzlich in die Steigbügel und hob lauschend den Kopf. »Warte noch, Joshua! Hörst du nicht auch das Gebell von Hunden und den Schall von Jagdhörnern?« Die Geräusche waren allerdings bald nicht mehr zu überhören. Schon stürmten Hunde heran. Sie hatten wohl Witterung aufgenommen und ließen sich nicht mehr halten.
»Reitet langsam weiter!«, gab Henri das Kommando. »Es ist zu spät, um in die Deckung des Waldes zurückzukehren.«
Die Meute stürmte heran, die Jagdhunde keuchend mit heraushängender Zunge, die Reiter mit erhitzten Gesichtern. Weder die Hunde noch die Männer nahmen sich Zeit, bei den drei fremden Reitern anzuhalten.
Schon wollte Henri das Zeichen für eine schnellere Gangart geben, als hinter dem letzten Jäger ein junges Mädchen im Damensattel auftauchte. Sie brachte ihr Pferd zum Stehen und warf einen Blick auf Sean. »Wo wollt Ihr denn mit dem Kleinen hin? Seht Ihr nicht, wie er friert? Er wird sich in der Kälte noch eine Krankheit holen.«
Henri nickte zustimmend und antwortete mit einer kleinen Verbeugung: »Da gebe ich Euch Recht! Wir haben den Jungen nämlich im Wald gefunden. Er hatte sich verirrt und war völlig verzweifelt. Darum werden wir ihn zu seinen Eltern zurückbringen.« Sehr wohl war dem Templer bei dieser Lüge nicht. Aber bestand nicht etwa die Gefahr, dass dieses mitleidige Mädchen auf den Gedanken kam, den Jungen mit sich nach Hause zu nehmen, damit er sich in guter Obhut befände, bis sie seine Eltern benachrichtigt hatte?
Die Reiterin nestelte an ihrer Satteltasche und brachte einige gezuckerte Mandeln zum Vorschein, die sie Sean mit gewinnendem Lächeln überreichte. »Sei froh, mein Kleiner, dass diese Männer dich gefunden haben und nach Hause bringen wollen.«
Sean bedankte sich höflich. Seine gute Erziehung war unübersehbar. Aber er konnte doch eine Bemerkung nicht unterdrücken. »Darf denn ein Templer so dreist lügen?«, fragte er, als das Mädchen weitergeritten war. »Oder habe ich gestern irgendetwas falsch verstanden, als Ihr von den Ordensregeln gesprochen habt?«
»Sei nicht zu frech! Sonst bringe ich dich wirklich nach Hause zurück«, drohte Henri. Aber er musste lachen, und Joshua lächelte ein wenig spöttisch vor sich hin. Sean begann, ein fröhliches ländliches Lied zu trällern und bot Henri und Joshua freigebig von seinen süßen Mandeln an.
Der Abt von Cadouin hatte Henri von einem Hospiz erzählt, das von zwei Zisterziensermönchen unterhalten wurde. Henri hatte in seiner Landkarte vermerkt, wo sich nach den Erklärungen des Abtes die Pilgerherberge befinden musste. Der Wald wurde jedoch immer dichter. Zweimal gerieten die drei Reiter auf Holzpfade und Wildwechsel.
Henri verlor jedoch nicht die Geduld. Aufmerksam untersuchte er Pfade auf dem Waldboden. Mehrmals ließ er sich aus dem Sattel gleiten, um nach menschlichen Tritten Ausschau zu halten. Aber nur Füchse und Wildschweine hatten ihre Spuren hinterlassen. Endlich schöpfte er Hoffnung. »Hier scheint es einen Reitpfad zu geben«, meinte er, als zwischen den Spuren der Waldtiere die Abdrücke von Hufeisen sichtbar wurden. »Ich schlage vor, dass wir diesem Pfad folgen.«
Seine Entscheidung erwies sich als richtig. Denn offensichtlich hatten Reiter ab und zu den Sattel verlassen. Deutlich waren Abdrücke von Stiefeln in dem weichen Waldboden zu erkennen. Es dauerte gar nicht mehr lange, bis die drei eine einfache Behausung entdeckten, die aus rohem Felsgestein errichtet worden war. Neben dieser Eremitage stand unter einer knorrigen Eiche eine kleine Kapelle.
Sean stieß einen Jubelruf aus. Er klatschte in die Hände, sodass sich die Vögel aus der alten Eiche krächzend in die Luft erhoben. Das schien für die beiden Eremiten ein Alarmzeichen zu sein. Sie traten mit gesenkten Köpfen ins Freie; nicht etwa, weil sie die Ankömmlinge mit einer Verbeugung begrüßen wollten, sondern weil der obere Türbalken so niedrig war.
Henri ließ sich aus dem Sattel gleiten: »Der Abt von Cadouin entbietet Euch seinen Gruß und bittet Euch, uns für eine Nacht aufzunehmen.«
Die Mönche sahen einander an, flüsterten leise und nickten dann. »Seid willkommen! Unser Hospiz ist zwar nur eine bescheidene Unterkunft. Aber hinter dem Haus gibt es eine Quelle. Dort könnt ihr euch säubern und die Pferde tränken. Wenn Ihr mit einem Strohlager und einer einfachen Mahlzeit zufrieden seid, dürft Ihr bleiben, bis Ihr Euch von den Strapazen der Reise erholt habt.«
Henri bedankte sich und folgte den Eremiten in die Hütte, die nur aus einem einzigen Raum bestand. Zwischen rohen Brettern waren mehrere Strohlager aufgehäuft. Joshua sah sich nach allen Seiten um.
Die Mönche mussten wohl seine Blicke beobachtet haben. »Hier kommen oft Pilgergruppen vorbei«, teilte ihnen der Ältere mit. »Da wird der Platz eng. Wir haben uns deshalb in der winzigen Sakristei der Kapelle eine Schlafstatt eingerichtet. In der Nähe des Gekreuzigten fühlen wir uns am wohlsten.« Sie gingen wieder nach draußen und begannen dort mit erstaunlicher Kraft, klobiges Holz zu spalten.
»Dann wollen wir einmal zur Quelle gehen«, schlug Henri vor. »Eine Säuberung wird uns allen gut tun.«
Sean legte sein Hemd ab, aber Joshua ließ sich auf dem Strohlager nieder. »Geht nur voraus! Ich komme später nach«, sagte er.
Henri verstand, warum Joshua jetzt allein sein wollte. Sein Freund hatte den Wunsch, nach jüdischem Ritus zu beten. Es war ihm nicht verborgen geblieben, dass Joshua in einem rotsamtenen Säckchen stets seinen ledernen Gebetsriemen mit sich führte. Vielleicht untersagten ihm aber auch seine Gesetze, sich vor dem Jungen nackt zu zeigen.
Darum nahm Henri Sean bei der Hand und führte ihn nach draußen. »Komm, mein Knappe! Du wirst dich hoffentlich nicht vor dem kalten Wasser fürchten.«
Die Quelle lag oberhalb einer Felswand. Das dunkelgrüne Wasser stürzte rauschend abwärts. Unten hatte sich ein kleines Becken gebildet, das sich im Laufe der Jahre durch die Gewalt des Wassers stetig vertieft und vergrößert hatte. Sean blieb zögernd am Rand stehen.
»Hinein mit dir!«, rief Henri. »Dies ist nicht der Waschtrog deiner Mutter!« Er packte Sean beim Handgelenk und sprang mit ihm zusammen in das Wasser. Die Kälte nahm ihm fast den Atem, und Sean stieß einen lauten Schrei aus. Henri hinderte ihn daran, eilig wieder hinauszuklettern. Er hob den Jungen hoch und ließ ihn wieder zurückfallen, sodass Sean bis über die Ohren im kühlen Nass versank.
Prustend und spuckend tauchte der Junge wieder auf. »Das kann ich auch!«, rief er, tauchte noch einmal freiwillig, umschlang Henris Waden mit beiden Armen und zog ihm mit aller Kraft die Beine unter dem Körper weg. Henri traf dieser Angriff völlig überraschend. Er verschwand unter der Wasseroberfläche.
Als auch er schnaufend wieder auftauchte, sah er Sean am Beckenrand stehen und lachen. »Was bist du nur für ein Ritter!«, verspottete ihn der Junge. »Wie willst du einen Kampf Mann gegen Mann gewinnen, wenn du dich von einem Jungen besiegen lässt?«
Diese Beleidigung ließ sich Henri nicht zweimal sagen. Blitzartig packte er zu, um Sean zu sich ins Wasser zu ziehen. Aber der Junge reagierte wider Erwarten schnell, sprang zurück und rannte dem nahen Wald zu.
»Lauf du nur und bring dich in Sicherheit!«, rief Henri hinter ihm her. »Beim Laufen bin ich dir vorläufig noch überlegen.«
Mit einem Sprung war er aus dem Wasser und nahm die Verfolgung auf. Sean lief schreiend davon, erreichte das Gestrüpp des Waldrands und versuchte, sich in den niederen Büschen zu verstecken.
Aber Henri, der sehr schnell herangekommen war, sah den blonden Haarschopf zwischen den grauen Ästen leuchten. Mit festem Griff hob er den Jungen zu sich hoch. »Was soll ich jetzt mit dir machen?«, fragte er drohend.