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Sean sah ihn erschrocken an. »Werdet Ihr mich schlagen?« Er war nach dem fast spöttischen »Du« bei seinem Triumph in der Wasserschlacht zu dem respektvollen »Ihr« zurückgekehrt. Seine Stimme klang ängstlich, und er versuchte, sich aus dem festen Griff zu befreien.

»Stillhalten und zuhören!«, befahl Henri. »Ich bin nämlich sehr stolz auf dich. Jeder Templer wäre froh gewesen, einen Knappen zu haben, dem es gelungen wäre, einen erwachsenen Mann von den Füßen zu holen.«

Sean sah seinen Herrn erleichtert und erstaunt an. »Soll ich es noch einmal versuchen?«, fragte er eifrig.

»Lieber nicht!«, erwiderte Henri. »Denn jetzt bin ich auf deinen Überfall vorbereitet und ließe dir eine Abreibung zukommen, die du so bald nicht vergessen könntest. Aber ab morgen werde ich mit dir den Gebrauch der Lanze üben.«

Sean machte einen Luftsprung. »Wirklich?«, fragte er ungläubig.

»Ja, wirklich! Du bist jetzt alt und kräftig genug, um eine Lanze zu tragen. Aber du wirst dich wundern, wie streng ich als Lehrmeister sein kann.«

Als die beiden die Hütte betraten, vernahmen sie noch die leise gemurmelten Worte des jüdischen Gebetes: »Höre, Israel, der Ewige, unser Gott, ist der Ewige, der einzig Eine!« Joshua streifte den Gebetsriemen ab, den er während des Betens um seinen linken Arm und um die Stirn geschlungen hatte. Hastig verstaute er das rotsamtene Säckchen mit dem Gebetsriemen in seinem Bündel. Er fürchtete wohl neugierige Fragen des Jungen.

In der Hütte brannte im Kamin ein Feuer, an dem sich die beiden nach dem kalten Bad schnell erwärmten. Aber obwohl Henri einen Finger auf die Lippen gelegt hatte, um Joshua nicht aufzuscheuchen, konnte Sean es nicht lassen, singend im Raum umherzutanzen. »Oh, wie wunderbar warm war doch dieses Wasser!«, sang er in höchsten Tönen. »Es muss wohl eine warme Quelle sein. Am liebsten möchte ich gleich noch einmal ein Bad nehmen.«

Henri zupfte ihn kräftig an den Ohren. »Willst du wohl still sein!« Das übertriebene Wehgeschrei des Jungen klang unecht, war jedoch lauter als der Gesang.

Joshua erhob sich und runzelte die Stirn. »Lass doch dem Jungen seine Freude. Die ungewohnte Wärme des Feuers hat mich zwar schläfrig gemacht. Aber das Quellwasser wird mich wieder munter machen.«

»Mit Sicherheit!«, behauptete Henri und zwinkerte Sean verschwörerisch zu.

Kurz darauf erklang vom First der Kapelle das helle Läuten einer kleinen Glocke. Einer der Eremiten erschien in der Kammer. »Wollt Ihr an unserem Abendgebet teilnehmen?«, fragte er mit leiser Stimme. »Es ist bei uns Brauch, dass jeder Gast unseres Hospizes die Gebetsstunden besucht.« Mit keinem Wort erwähnte er, dass Joshua fehlte. Ob er den Gebetsriemen entdeckt oder vielleicht sogar das jüdische Gebet belauscht hatte?

Henri reichte Sean die Hand und folgte dem Eremiten in die Kapelle. Erleichtert stellte Henri fest, dass Sean vor dem einfachen Altar und einem handgeschnitzten Kreuz seine Knie beugte. Die beiden Mönche sangen einen Choral, den Henri bisher noch nicht gehört hatte. Sie hatten beide wohlklingende Stimmen, die beruhigend, aber auch einschläfernd wirkten. War es nun das Bad in der Quelle, der eintönige Gesang oder der betäubende Duft des orientalischen Weihrauchs, der zu einem kaum beherrschbaren Schlafbedürfnis führte? Henri warf einen Blick zu Sean. Aber der Junge wehrte sich erfolgreich gegen die Müdigkeit.

Schließlich brach der Gesang ab, und der ältere Mönch las ein kurzes Kapitel aus der Heiligen Schrift, sprach einen Segen für Pilger und Reisende und beendete die Abendandacht.

Draußen ging soeben die Sonne unter. Ihre dunkelroten Strahlen erreichten gerade noch den First der Kapelle und brachten die kleine Glocke zum Leuchten. Henri fühlte sich der Realität entrückt. Er musste etwas tun, um in die Welt des kämpferischen Templers zurückzukehren.

»Bis zur Dunkelheit bleibt uns noch etwas Zeit übrig«, wandte er sich an Sean. »Wir sollten unsere Übungen mit der Lanze beginnen.« Diesen Vorschlag musste er allerdings nicht wiederholen.

Sean vollführte erneut begeistert einen Luftsprung. Er verfolgte aufmerksam, wie Henri einen Pfahl in den weichen Waldboden versenkte, sich in den Sattel des Kastiliers schwang, seine Lanze am Schaft fasste, schräg nach unten hielt und sein Pferd in einen schnellen Trab versetzte. Er ritt eine Runde. Als er an Sean vorbeikam, lehnte er sich nach hinten und gab seinem Pferd mit den Schenkeln den Befehl zum Galopp.

Sean konnte bei dieser Geschwindigkeit kaum verfolgen, wie Henri auf halbem Weg der nächsten Runde die Lanze zum Wurf erhob und in die Richtung des Pfahls schleuderte. Berstend zersprang das Holz, und der obere Teil fiel, wie mit einer Klinge abgeschnitten, auf den Erdboden.

Sean stand sprach- und bewegungslos da, als Henri vor ihm aus dem Sattel sprang. »Nun bist du dran, Knappe!«, forderte ihn sein Lehrmeister auf. »Zeige, dass du ein gelehriger Schüler bist! Aber nimm dein Pferd, weil es schon an dich gewöhnt ist. Es muss dir auf jede Anweisung gehorchen. Wenn es dir im Kampf den Gehorsam versagt, bist du verloren.«

Sean bestieg zögernd sein Pferd. Man sah seinem Gesicht an, dass er sich vor einem Versagen fürchtete. Seine Schenkel fühlten sich schlapp an. Zu spät und zu schwach gab er die Order zum Galopp. Vor dem Pfahl scheute das Pferd. Beinahe wäre Sean kopfüber in den Morast des Waldbodens gestürzt. Im letzten Augenblick wollte er noch die Lanze auf den Pfahl werfen. Aber seine eiserne Waffe flog weit über dessen hölzerne Spitze hinaus. Beschämt wollte er sich aus dem Sattel gleiten lassen.

»Nein, nein, so geht das nicht!«, rief Henri streng. »Bleibe im Sattel und reite eine neue Runde. Hier hast du eine Gerte, damit du deinem Pferd Beine machen kannst.«

Aber auch diesmal wollte es dem Jungen nicht gelingen, den Pfahl zu treffen. Henri zeigte weder Ärger noch Enttäuschung. Er bestieg den Kastilier. »Beobachte noch einmal genau meine Haltung und den Armschwung, mit dem ich die Lanze schleudere!«

Sean spürte, wie die Angst vor einem erneuten Versagen ihm die Kehle zuschnürte. Er wollte schon zu bedenken geben, dass es doch nun zu dunkel für die Übungen sei. Aber ehe er noch den Mund öffnen konnte, trat Henri auf ihn zu, nahm ihm die Gerte aus den verschwitzten Fingern und drohte mit ernsthafter Miene: »Wenn du es wagst, hier vor mir abzusteigen, bevor du nicht eine erfolgreiche Runde geritten bist, wirst du und nicht dein Reittier die Gerte zu spüren bekommen.«

In diesem Augenblick tauchte Joshua an der provisorischen Reitbahn auf. »Darf ich dich einmal sprechen, Henri?« Was mochte er wollen? Henri trat mit Joshua beiseite.

»Sean ist doch noch ein halbes Kind«, gab Joshua zu bedenken. »Du mutest ihm einfach zu viel zu. Bis vor wenigen Tagen hat er noch ohne Vater mit seiner Mutter zusammengelebt, die ihn mit Sicherheit umsorgt hat. Jetzt willst du aus ihm allzu schnell einen Mann machen.«

Obwohl Henri fürchtete, dass die Behandlung des Jungen allmählich zu einer Entfremdung zwischen ihm und seinem Freund führen könnte, vertrat er seine eigene Meinung. »Wie soll er den langen Ritt nach Paris und das, was wir dort vorhaben, gesund überstehen, wenn wir ihn nicht mit einer gewissen Härte darauf vorbereiten? Ich meine es nur gut mit ihm, wenn ich ihn im Gebrauch der Lanze unterweise, damit er sich wehren kann. Ich selbst war doch noch jünger als er!«

Joshua schüttelte den Kopf und sagte eindringlich. »Aber es ist nicht nötig, dass du ihn mit der Gerte schlägst.«

Henri fand zunächst keine Worte. Ihm kam eine plötzliche Erinnerung. Er wusste, dass Joshua seine Frau und seinen Sohn bei der Judenvertreibung verloren hatte. Joshua selbst sprach über diese tragischen Ereignisse nie ein Wort. Aber der Anblick des Jungen musste schmerzhafte Erinnerungen in ihm wecken. Mit Sicherheit verurteilte er die Strenge, mit der Henri den Jungen erziehen wollte.

Was nur sollte er Joshua erwidern? Als Henri endlich eine Antwort fand, klang seine Stimme gepresst. »Aber das war doch nur eine Drohung.« Er war sich aber gar nicht so sicher, ob er es nur bei der Drohung belassen hätte.