Ein lautes Bersten enthob ihn weiterer Worte. War Sean gestürzt? Aber ein Jubelruf des Jungen nahm ihm die Sorge. »Ich habe es geschafft! Ich habe es geschafft!«, rief Sean immer wieder.
Während die beiden Männer gesprochen hatten, war Sean Runde um Runde geritten, bis es ihm nun gelungen war, das harte Holz des Pfahls mit der Lanze zu spalten. Der Waldboden war mit Spänen und Splittern übersät.
Henri eilte auf den Jungen zu und hob ihn aus dem Sattel. »Bravo, mein Knappe!«, rief er begeistert und nahm Sean in den Arm. »Von jetzt an brauche ich keinen Angriff und keinen Hinterhalt mehr zu fürchten, wenn du an meiner Seite kämpfst. Ab heute sind wir Kampfgefährten.«
Joshua trat auf die andere Seite des Jungen und legte ihm den Arm um die Schultern. »Du bist ein sehr tapferer Junge und wirst deinem Herrn viel Freude bereiten.« Sein Lob klang aufrichtig, und Henri fühlte sich erleichtert.
8
In der Nacht wachte Henri von einem leichten Donnergrollen auf. Der finstere Raum wurde in unregelmäßigen Zeitabständen durch schwefelgelbe Blitze erhellt. Schneller als erwartet näherte sich das erste Frühlingsgewitter dem Hospiz. Der Sturm steigerte sich zu einem orkanartigen Brausen, und von draußen ertönte das Bersten und Knacken umstürzender Bäume. Als das Gewitter geradewegs über der Hütte zu stehen schien, zuckte ein rötlich gelber Blitz an der Fensterluke vorbei, und fast gleichzeitig folgte ein dröhnender Schlag.
Mit einem Schrei fuhr Sean von seinem Lager hoch und warf sich Henri in die Arme. Krampfhaft hielt er sich Augen und Ohren zu. Aber Henri nahm die Hände des Jungen und zog ihn an sich. »Das ist nichts anderes als ein Wintergewitter«, sagte er beruhigend. »Du brauchst dich nicht zu fürchten.«
Sean versuchte, sein Zittern zu verbergen, und grub sich tiefer in den Strohballen.
Henri ließ ihn in dem schützenden Versteck. »So ein Gewitter ist nur ein Naturereignis. Der Blitz verbrennt die Luft, und es kommt zu einem Knall. So entsteht dieser Krach«, erklärte er das beängstigende Geräusch des Donners. »In einer Schlacht ist der Lärm bedeutend stärker. Und dort ist man wirklich in Lebensgefahr.«
Sean kam aus seinem Strohballen herausgekrochen. »Erzähle mir von einer solchen Schlacht!«, bat er.
Noch zögerte Henri, dem Jungen von den Kämpfen in Akkon zu berichten, in denen Seans Vater vielleicht sein Leben verloren hatte. Erst recht wollte er nicht davon sprechen, dass es dem damaligen Papst Nikolaus nicht gelungen war, die Könige von Frankreich und England zu einem neuen Kreuzzug zu bewegen. König Eduard war der Kampf um den schottischen Thron wichtiger als der Kampf um Akkon. Und Philipp setzte natürlich alle Kraft nur auf das Ziel, seine königliche Machtstellung zu stärken. Henri seufzte. Wo nur sollte er beginnen?
Das Gewitter dauerte unvermindert fort, und Sean meinte wohl, dass diese Geräuschkulisse einen guten Hintergrund für die Schlachtenschilderung abgeben müsse. »Waren die Templer tapfere Kämpfer, und konntet ihr die Sarazenen vertreiben?«
Henri schüttelte vage den Kopf. Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als seinem Knappen den Glauben an die unbesiegbaren Tempelritter zu zerstören. Denn die Einzigen, die dem geradezu flehentlichen Aufruf des Papstes gefolgt und mit ihren Galeeren ins Heilige Land aufgebrochen waren, erwiesen sich als minderwertiges Gesindel, das den mühsam gewahrten Frieden in Akkon gefährdete. Diese angeblichen Kreuzfahrer schämten sich nicht, friedliche Kaufleute und Reisende zu ermorden, vor allem aber jene, die wegen ihrer Barttracht Anhänger des Propheten Muhammad zu sein schienen.
»Stört dich der laute Donner?«, fragte Sean, dem die Pause gar zu lang erschien. »Ich fürchte mich gar nicht mehr.«
Länger durfte Henri nicht zögern. Er setzte sich aufrecht hin und begann seinen Bericht mit fester Stimme. »Wir waren natürlich auf eine Belagerung unserer Stadt gut vorbereitet. Aber als das gewaltige Heer der Ungläubigen vor Akkon erschien, waren wir doch etwas erschrocken. Denn unsere Truppe war gegen diese Übermacht an Reitern und Fußsoldaten viel zu gering.«
»Dafür wart ihr doch sicher diesen Ungläubigen an Tapferkeit und Siegeswillen überlegen«, warf Sean hoffnungsvoll ein.
»Nun ja«, bestätigte Henri zögernd. »Wir Templer hatten unsere Verteidigungsstellung an der Stadtmauer aufgebaut. Aber wir hatten vorher nicht gewusst, dass die Sarazenen fähig waren, die Stadt mit schweren Belagerungsmaschinen zu umstellen.«
»Konnten denn solche Maschinen überhaupt etwas gegen eure Befestigungen ausrichten?«, fragte Sean. »Wie sahen denn solche Maschinen aus?«
Sean wollte offensichtlich alles sehr genau wissen. So versuchte Henri, sich an die Belagerungsmaschinen von damals zu erinnern. »Die gefährlichsten für uns waren die Mauerbohrer. Das waren Balken, die mit Eisenköpfen versehen waren, um damit den Mauerverband zu lockern und Türme zum Einsturz zu bringen. Tag und Nacht konnten wir das Bohrgeräusch hören. Nach und nach mussten wir die meisten Türme verloren geben. Aber jetzt unterbrich mich nicht zu oft! Du wolltest doch etwas über die Schlacht hören!«
Sean schwieg und stellte keine weiteren Fragen mehr.
»Unser Glück war, dass die Sarazenen nicht das Meer beherrschten, sodass man uns von Zypern aus mit Nahrungsmitteln und Hilfsmitteln versorgen konnte. Trotzdem brachen Seuchen aus. Es blieb uns nichts anderes übrig, als in der Nacht die Toten über die Mauer zu werfen.«
Sean hatte schon den Mund zu einer weiteren Frage geöffnet, aber Henri fuhr fort. »Viele unserer Kämpfer wurden von den Sarazenen gefangen genommen, als ein Ausfall unserer Truppen missglückte. Aber das war nicht das Schlimmste. Denn den Ungläubigen gelang es schließlich, entlang der gesamten Stadtmauer in die Stadt einzudringen.«
Sean sah ihn entsetzt an. Er ahnte schon, was jetzt kommen würde. Und wie ein düsteres Vorzeichen zuckte ein schwefelgelber Blitz an der Fensterluke vorbei und fuhr in die alte Eiche neben der Hütte. Ein dröhnender Donnerschlag folgte dem ohrenbetäubenden Bersten des splitternden Holzes.
Henri erhob die Stimme, um sich verständlich zu machen. »Wir Templer und die anderen Ritter waren entschlossen, diesen Kampf Mann gegen Mann mit unseren Schwertern auszufechten. Es war entsetzlich, was sich unseren Blicken bot.« Henri wurde von der furchtbaren Erinnerung übermannt. Er dachte nicht mehr daran, den halbwüchsigen Jungen durch eine milde Schilderung zu schonen. Es gelang ihm, das Getöse, das sich draußen abspielte, mit seinem eigenen Geschrei zu übertönen.
»Unsere Feinde kannten keine Gnade. Sie fielen über Frauen und Kinder her, schlitzten ihnen die Bäuche auf oder nahmen sich sogar Zeit, mit brennenden Holzscheiten in die Frauen einzudringen. Ich selbst war Augenzeuge, wie sie mit einem einzigen Hieb den Kopf eines Säuglings vom Rumpf trennten. Von da an war ich nicht mehr Herr meiner Sinne.«
Henri vernahm neben sich ein würgendes Geräusch. Aber er war nicht einmal jetzt, nach all den vielen Jahren, zu einem Gefühl des Mitleids fähig. Wie eine riesige Welle überrollte ihn die Erinnerung.
»Ich rannte und rannte und wusste gar nicht, wohin ich mich wenden sollte. Kein Turm glich mehr dem anderen: der Turm der Gräfin von Blois, der Engländer, der Legaten, der Patriarchen, König Hugos und König Heinrichs Turm, sogar der Verfluchte Turm neben der Burg. Sie alle lagen in Schutt und Trümmern, zusammengestürzt unter der Wucht der Belagerungsmaschinen.«
»Wo waren denn deine Kampfgefährten?«, fragte Sean.
Henri blieb die Antwort schuldig. »Ich weiß es nicht. Das Blut pochte in meinen Ohren, ich konnte nichts hören. Und im Dunst der zusammengestürzten Bauwerke konnte ich nichts sehen.
An der Schanze der Hospitaliter traf ich auf einen jungen Sarazenen, kaum älter als ich selbst. Ich war damals noch sehr jung, nicht einmal zwanzig und kaum dem Knappenalter entwachsen. Meine Oberen hatten mir befohlen, alle Ungläubige zu töten. Das war für mich wie ein Gesetz.«