Henri hielt einen Atemzug lang inne. Aber er wollte Sean wissen lassen, zu welcher Überzeugung er in all den vergangenen Jahren gekommen war. 23 Jahre waren seit der Schlacht von Akkon vergangen. »Heute weiß ich, dass es diesem jungen Sarazenen nicht anders ergangen war als mir. Seine Oberen hatten ihm befohlen, alle Christen zu töten. Warum nur? Wir hätten Zwillinge sein können.«
Sean schwieg. Vielleicht hatte er nicht verstanden, was Henri mit dieser letzten Bemerkung sagen wollte. Darum fuhr Henri in seiner Erzählung fort. »Ich griff zu meinem Dolch. In den Augen meines Feindes sah ich die gleiche Wut, die mich übermannt hatte. Wir umkreisten einander und suchten nach einer Lücke in der Deckung des Gegners. Einmal geriet ich ins Stolpern, und es gelang dem Araber, mir meinen rechten Unterarm aufzuschlitzen. Ich stieß einen lauten Schrei aus; mehr aus Wut über meine Nachlässigkeit als aus Schmerz. Mein Gegner fühlte sich wohl schon als Sieger, als er meine blutende Wunde sah. Aber ich umfasste den Dolch mit meiner linken Hand und stieß ihm die eiserne Spitze mit Wucht in sein rechtes Auge. Was aus ihm wurde, weiß ich nicht, denn ich stürmte wie in einem Blutrausch weiter.«
Henri bemerkte, dass Sean sich erhoben hatte und zitternd vor ihm stand. Aber wie unter einem Zwang fuhr er in seiner Schilderung fort. »Drei Ungläubige hatten mich umringt. Ich musste zurückweichen und gelangte in einen Hinterhof. In der Dunkelheit stolperte ich über einen leblosen Körper. Als ich auf ihm lag, starrte ich in die fast schon gebrochenen Augen unseres verwundeten Großmeisters Wilhelm von Beaujeu. Er lag sterbend in Jauche und Mist.«
Sean weinte laut. »Halt ein!«, schrie er laut. »Meine Mutter hat mir erzählt, du seist ein Held gewesen.«
Henri antwortete mit einem bitteren Lachen. »Man hatte mich nichts anderes als zu kämpfen gelehrt. Ich kann im Nachhinein nichts Heldenhaftes daran erkennen. Meine Wut richtete sich nun gegen meine eigenen Templerbrüder. Warum hatten sie unseren Großmeister wie ein sterbendes Vieh in der Jauche liegen gelassen?
Drei Templer waren mir zu Hilfe geeilt, weil sie mich in Gefahr glaubten. Ich packte den ersten beim Kragen und machte Anstalten, ihn zu würgen. ›Hundsfott! Warum habt ihr unseren Großmeister im Stich gelassen?‹
Die anderen brachten mich mit einer Ohrfeige zur Besinnung und versuchten mir die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen zu erklären. ›Wir haben ihn auf seinem Schild davongetragen und wollten mit ihm über das Meer fliehen. Auch alle anderen Christen stürzten zum Hafen, um sich dort auf bereitliegende Schiffe zu retten. Der Sturm hinderte uns jedoch daran, mit unseren Booten auszulaufen.‹
Einer der Templer schnaufte hörbar vor Wut. ›Weißt du, was das Schlimmste war? Unsere eigenen Brüder haben uns den Zugang zum Templerhaus verwehrt, das bis jetzt noch in unserer Hand ist. Aber auch die Türme des Templerhauses werden in kurzer Zeit unterminiert sein. Das Bohrgeräusch der Belagerungsmaschinen übertönt sogar das Kampfgetümmel.‹
Ich befreite mich von den Fäusten, die mich festhielten, um mich zur Besinnung zu bringen. Ich riss mich los. ›Dann müssen wir eben diese Belagerungsmaschinen zerstören! Mir nach!‹
Aber mein Zuruf konnte die anderen nicht aufrütteln. ›Keine zehn Pferde werden mich zu den Belagerungsmaschinen bringen‹, schrie der Jüngste der Templer mit einer Stimme, die sein Entsetzen verriet. ›Ich war dort, als der äußere Ring der Stadtmauer von den Mamelucken eingenommen wurde.‹
›Was kümmert es uns, ob diese Maschinen von Mamelucken oder anderen Ungläubigen bedient werden?‹, rief ich verächtlich. ›Wir werden ihnen allen die Kehlen durchschneiden!‹
›Ohne mich!‹, brüllte einer der anderen Brüder. ›Du weißt wohl nicht, dass die Mamelucken ursprünglich türkische Sklaven waren? Sie wurden von den arabischen Herrschern zum Militärdienst gezwungen, bis sie vor vierzig Jahren in Kairo selbst die Macht ergriffen.‹
›Und sie haben sich als die grausamsten Kämpfer von allen erwiesen‹, bestätigte ihn der jüngste Templer.«
»Das klingt ja aufregend!«, rief Sean ganz fiebrig aus. Aber Henri bedeutete ihm, er solle schweigen.
»›Bis wir zu den Belagerungsmaschinen vorgedrungen waren, wateten wir in Blut‹, berichtete mir der andere Bruder. Der Anblick dort sei entsetzlich gewesen. Denn die Ungläubigen hatten die Unsrigen vor die eiserne Spitze des Bohrbalkens gepresst.
Ich wagte gar nicht auszusprechen, was ich mit Schaudern ahnte. ›Du meinst doch nicht etwa, dass…‹, fragte ich den Bruder, der all das gesehen hatte.
›Doch, genau das!‹, entgegnete er. ›Sie haben alle Gefangenen gepfählt. Nur ein langsamer Tod hat diese armen Menschen von ihren Schmerzen erlöst.‹
Ich hatte genug gehört. Für die Stadt und ihre christlichen Einwohner gab es keine Rettung mehr. Auch ich wollte versuchen, das Templerhaus am Hafen zu erreichen, um mich den Verteidigern anzuschließen.«
Sean war wieder unter seinen Strohballen gekrochen. Er schluchzte leise vor sich hin. Henri griff nach der eiskalten Hand des Jungen. Hätte er die Pfählung nicht erwähnen dürfen? Vom Lager seines Gefährten Joshua klangen regelmäßige Atemzüge. Aber Henri konnte sich nicht vorstellen, dass bei so gewaltigen Donnerschlägen ein ruhiger Schlaf möglich war. Vielleicht wollte Joshua zu diesem grauenvollen Bericht nicht Stellung nehmen. Aber jetzt gab es kein Zurück.
»Am Hafen herrschte Chaos. Soeben war ein Boot gesunken, das überladen war. Viele versuchten, sich am Bootsrand festzuklammern, und stießen ihre Nachbarn rücksichtslos beiseite. Denn alle Christen wollten vor den grausamen Mamelucken flüchten.«
»War das nicht unmenschlich und sehr feige?«, hörte Henri eine leise Stimme neben sich.
»Nicht alle dachten nur an Flucht«, entschuldigte Henri seine Brüder. »Aber höre, was geschah! Der Sultan hatte freies Geleit zur Ausreise nach Zypern zugesagt, falls man die Festung räume, aber die Mamelucken benutzten ihre Anwesenheit zur Überwachung der Übergabe, um an Frauen und Knaben ihre Schandtaten zu begehen. Du weißt jetzt wohl, wie es den Armen erging.«
Sean tauchte wieder auf. »Aber der Sultan hatte doch ein Versprechen gegeben.«
Henri lachte verächtlich. »Er brach es. Von unseren Gesandten hat keiner überlebt. Aber von da an waren wir entschlossen, bis zum letzten Atemzug zu kämpfen.«
»Aber du hast diesen Kampf überstanden. Darüber bin ich froh!«, flüsterte Sean.
Diese Worte brachten Henri zur Besinnung. Musste er nicht seinem Herrgott täglich von ganzem Herzen dafür danken, dass er diese Hölle von Blut und Schmerzen fast unverletzt überlebt hatte? Bis zu dieser Nacht, in der er sich dem Jungen geöffnet hatte, wollte er sich an das schreckliche Erlebnis nicht mehr erinnern. Seine Gedanken waren voller Hass und Rache gewesen. Dabei hatte ihm die Begegnung mit dem Feind eine dauerhafte Freundschaft gebracht. »Ich danke dir für deine Worte, mein kleiner Knappe. Jetzt möchte ich dir noch das Ende der Schlacht um Akkon erzählen.«
Sean gab keinen Laut von sich und hielt den Atem an.
»Die Belagerungsmaschine bohrte sich immer tiefer in den Felsen, auf dem unsere Festung nahe am Meer erbaut war. Das Dröhnen der Bohrer kam ständig näher. Jeder wusste, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis der Turm des Templerhauses völlig unterminiert sein würde. Dennoch glaubte niemand an das nahe Ende. Aber auch die Sarazenen erwarteten wohl nicht den raschen Erfolg ihrer Unterminierung. Plötzlich war es jedoch so weit. Mit einem ungeheuren Krach brach der Turm in sich zusammen und begrub Freund und Feind unter seinen Trümmern.«
Sean setzte sich aufrecht hin und sah zur Fensterluke. Er hatte wohl erwartet, dass dieser gewaltige Krach des Zusammenbruchs von einem Donnerschlag begleitet sein würde. Aber das Gewitter hatte sich verzogen, und nur ein leichter Wind strich noch durch die Bäume.