»Ich hatte Glück«, sagte Henri mit einem tiefen Seufzer. »Und zwar in zweifacher Hinsicht. Denn ich fand einen treuen Freund.«
»Einen Templer, der bis zum Ende mit dir gekämpft hatte und der auch gerettet wurde?«, fragte Sean.
Henri strich ihm über die heiße Stirn. Er schüttelte den Kopf. »Nein, das wirst du kaum verstehen. Es war ein Sarazene. Ein schwerer Balken lag quer über seinem rechten Bein und ließ sich nicht bewegen. Er stöhnte vor Schmerzen und sah mich mit einem Gesichtsausdruck an, der mich aus unerfindlichen Gründen rührte. Vor mir lag ein leidender Mensch. Niemals hatten unsere Lehrer die Geschichte vom barmherzigen Samariter erwähnt. Dennoch kannte ich dieses Gleichnis der Bibel gut. Aber aus Angst vor Strafe hatte ich niemals gewagt, auf meine Vorliebe für diese Geschichte hinzuweisen, die mir meine Mutter mehrmals erzählt hatte. Warum wohl? Weil ein Templer kein Mitleid mit einem Feind zeigen durfte? Ich wusste nicht, warum ich mich jetzt mühsam erhob und mit aller Kraft den Balken beiseite räumte. Das Bein sah böse aus, aber es schien kein Knochen verletzt.«
»Das hast du gut gemacht«, stellte Sean befriedigt fest. »Was hat der Sarazene jetzt getan? Wollte er davonlaufen oder dich etwa sogar angreifen?«
Henri lächelte. »Keins von beiden. Er reichte mir die Hand und sprach so etwas Ähnliches wie ein Gelöbnis: Ich werde dir ewig dankbar und immer neben dir sein, wenn du in Not geraten bist. Rufe meinen Namen Umar, und ich werde zu dir eilen.«
»Hat er sein Versprechen eingehalten?«, fragte Sean.
Henry nickte. »Mehr als das! Er griff in seinen Nacken und löste eine silberne Kette mit einem Anhänger, die er mir auf der flachen Hand entgegenhielt. Als er sprach, klang das wie eine Bitte.«
»Nimm diesen Talisman, der mich bisher geleitet hat und nun dich vor allen Gefahren beschützen soll.«
Ich steckte sein Geschenk ein und habe erst viel später festgestellt, dass auf dem Anhänger ein Wort stand, das die Sarazenen Baphomet oder Mahomet aussprechen. Angeblich sollen sie diesen Baphomet wie einen Götzen anbeten. Aber auf der Rückseite des Talismans war noch etwas anderes eingeritzt: alhamdulillah. Viel später habe ich dann erfahren, dass dieses arabische Wort Dank sei Gott bedeutet.
Sean zog eine logische Schlussfolgerung. »Beschützt hat dich dieser Talisman jedenfalls auch mit einer arabischen Inschrift. Sonst wärest du heute nicht hier! Was aber geschah mit dem Sarazenen?«
»Ich kannte einen geheimen Ausgang, der zum Glück nicht verschüttet war und zum Meer führte. So packte ich den hinkenden Sarazenen am Arm und führte ihn den unterirdischen Gang entlang bis zu der Stelle, wo seine Landsleute vor der Festung lagerten.«
Sean seufzte tief. »Das war ein schöner Schluss. Aber hast du diesen Umar niemals wiedergetroffen?«
»Doch, aber das ist eine andere Geschichte.« Henri drehte sich zur Seite und sah, dass sich die erste Morgendämmerung zeigte. Er fühlte sich gleichzeitig erschöpft und erleichtert. »Wir wollen versuchen, noch ein wenig zu schlafen«, schlug er vor.
Sean rückte näher an ihn heran. »Darf ich neben dir liegen bleiben?«, fragte er leise. »Ich habe Angst, dass ich von diesen furchtbaren Dingen träumen muss.«
»Davor fürchte ich mich auch ein wenig«, gab Henri zu. »Also versuchen wir gemeinsam, die schrecklichen Albträume zu verscheuchen.«
Er legte seinen Arm um die Schultern des Jungen, der bald tiefe Atemzüge von sich gab. Aber Henri konnte lange Zeit nicht einschlafen.
9
Henri erwachte von lautem Stimmengewirr. Die Türe flog auf, etwa zehn kräftige Männer drängten sich herein und warfen prall gefüllte Bündel auf die Strohsäcke. »Auf, auf, ihr Schlafmützen! Es ist ja schon heller Tag!«, rief eine grobe Stimme.
Henri erschrak zutiefst. Waren sie verraten worden? Vielleicht waren die beiden Zisterziensermönche päpstliche oder königstreue Gefolgsleute und wussten, dass der Templerorden mit Billigung des Papstes aufgelöst worden war. Vielleicht aber war Joshua auch als Jude erkannt worden. Hatte man Sean als Geisel genommen, um ihn zu verhören? Die Stelle an seiner Seite war jedenfalls leer. Wie hatte er nur so sorglos schlafen können! Er sprang von seinem Strohlager hoch. Aber ehe er noch die Tür erreicht hatte, drang ein verführerischer Duft in seine Nase. Es roch nach gebratenem Fleisch.
Draußen brannte ein Lagerfeuer, und an einem eisernen Spieß drehte sich ein riesenhaftes Tier, das Henri sogleich als Wildschwein erkannte. Die Männer in ihren groben Bauernkitteln rissen sich gegenseitig die Drehkurbel aus den Fäusten. Offenbar meinte jeder, er könne den Braten schneller fertig stellen als der andere. Einigen lief voller Gier schon jetzt der Speichel am Kinn herab. Ein Becher mit Wein machte die Runde, und ein dickbäuchiger Mann mit glasigen Augen torkelte gefährlich nahe an den Flammen vorüber. Schließlich ertönte aus rauen Kehlen ein Vagantenlied, das sich zu einem trunkenen Gebrüll steigerte.
»Den Eber erlegt in tausend Gefahren, wie lernt ich im Leben das Fasten und Sparen! Die Mädchen lass ich trotz Bitten nicht frei, wo Männer sich raufen, da bin ich dabei, und da, wo sie saufen, da sauf ich für drei.« Beinahe hätte es tatsächlich eine Rauferei gegeben, denn ein zottelhaariger Kerl zerrte ein junges Mädchen zu sich heran und griff grob nach ihren Brüsten. Das Mädchen schrie laut auf. Ein älterer Mann, der wohl ihr Vater sein mochte, sprang herbei und verabreichte dem zudringlichen Kerl eine kräftige Maulschelle.
In diesem Augenblick ertönte die Glocke vom First der Kapelle. Ihr heller, ein wenig scheppernder Klang übertönte das Gebrüll der Männer. Es herrschte plötzliche Stille. Der Mann am Spieß vergaß das Drehen und stand mit offenem Mund da. Das Bimmeln der Glocke verstummte, und die beiden Mönche traten aus der Kapelle. Wie zwei Racheengel pflanzten sie sich vor den Bauern auf. Ihre Stimmen klangen drohend. »Schämt euch, ihr verlotterte Bande, euch auf dem Pilgerpfad wie die Heiden aufzuführen! Ihr seid es nicht wert, das Leichentuch Christi mit euren Augen zu schauen, anzubeten oder gar mit euren schmierigen Händen zu betasten. Auf die Knie mit euch, ihr Sünder! Bekreuziget euch und betet um Vergebung!«
Männer, Frauen und Kinder folgten dem Befehl. Nach jedem lateinisch gesprochenen Vers der Mönche, den das einfache Landvolk nicht verstand, rief es im Chor laut und übereifrig ein »Gelobt sei Jesus Christus! In Ewigkeit! Amen!«.
Einer der Zisterzienser wandte sich streng an die Bauern, die immer noch mit gesenkten Köpfen auf dem Erdboden knien blieben. »Und nun erwarte ich jeden von euch nacheinander zur Beichte in der Kapelle. Wer noch nicht seine Strafe und Absolution erhalten hat, bleibt hier so lange auf den Knien.«
Beide Mönche verschwanden in der Kapelle. Sogleich erhob sich ein heftiges Gedränge. Denn jeder wollte der Erste sein, um danach das Feuer neu zu entfachen und den Spieß zu drehen. Aber während sich die Bauern gegenseitig schubsten und zurückzerrten, erkannte Henri in der vordersten Reihe einen Blondschopf. Es war Sean, der jetzt als Erster die Kapelle betrat.
Henri erwartete ihn unter der großen Eiche. »Na, hast du deine Sünden gebeichtet? Welche Strafe hat dir der Beichtvater auferlegt? Hoffentlich musst du drei Tage fasten. Denn du warst allzu gierig auf den Wildschweinbraten. Oder warum hast du dich heimlich von unserem Schlaflager davongeschlichen?«
»Nicht einmal einen Rosenkranz musste ich beten!«, rief Sean triumphierend. »Denn ich habe den Zisterziensern berichtet, dass mein Vater im Orient gegen die Ungläubigen gekämpft hat und der Abt von Cadouin Beichtvater meiner Mutter ist.«
»Sich auf diese Weise vor einer Kirchenstrafe zu drücken ist eigentlich schon eine neue Sünde«, meinte Henri.