Henri nickte, bestieg sein Pferd und gab Sean ein Zeichen, er möge sich nicht hinter ihm, sondern neben ihm halten, um ihn so als seinen Gefährten anzuerkennen. Während des Rittes dachte er allerdings darüber nach, ob Sean nicht mit kindlicher Raffinesse versuchen würde, die beiden langjährigen Gefährten gegeneinander auszuspielen. Gerade darum aber hielt er den Vorschlag von Joshua für die beste Lösung.
Sie ritten den ganzen Tag und vermieden größere Dörfer. Denn seit dem Verlassen des Hospizes befanden sie sich nicht mehr in dem Gebiet, das der englischen Krone unterstand. Nach der jüngsten Erfahrung mit den bäuerlichen Pilgern war doppelte Vorsicht geboten.
Gegen Abend entdeckten sie auf einer Wiese einen kleinen Heuschober. Ein Gehöft war nicht zu sehen. Henri blickte sich in der Gegend um und meinte, man könne wohl einigermaßen gefahrlos in dem Schober übernachten. Nachdem sie die Pferde versorgt hatten, suchten sich alle drei in dem wenigen Heu eine Lagerstatt. Aber keiner konnte Schlaf finden.
Sean verspürte zum ersten Mal Heimweh nach Beaumont und vor allem nach der Fürsorge und Liebe seiner Mutter. Er kämpfte mit den Tränen. Joshua erinnerte sich wehmütig an seine Frau und seinen Sohn, die er während der Judenvertreibung verloren hatte. Henri dachte an sein Gelöbnis, den Feuertod der Templeroberen zu rächen. Gegen alle Widerstände würde er diesen Fluch erfüllen.
Plötzlich hörte Henri ein Rascheln. Er fürchtete zunächst, es könnte sich von draußen jemand nähern.
Aber dann erkannte er im Dämmerlicht den Schatten von Joshua, der sich auf allen vieren dem Jungen näherte. Sean machte ihm bereitwillig Platz. »Magst du mir ein wenig zuhören?«, fragte Joshua leise.
Henri konnte nicht verstehen, was Sean antwortete, aber er hörte deutlich, was Joshua zu erzählen begann: »Ich hatte einen Sohn, der jetzt etwa so alt sein müsste, wie du es bist. Aber ich habe ihn durch den Tod verloren, an dem ich mich schuldig fühle. Wenn ich ihn im Gebrauch der Waffen unterwiesen hätte, könnte er vielleicht heute noch leben. Denn er hätte sich gegen seine Feinde wehren können.«
»Warum hast du das nicht getan?«, fragte Sean.
Joshua seufzte und fuhr fort. »Weil ich ihn in den Lehren des Talmuds und der Thora unterwiesen habe. Einer der Sprüche im Talmud sagt: Fällt dein Feind, so sollst du dich nicht freuen, und strauchelt er, so soll dein Herz nicht jubeln.«
Sean stützte sich auf seine Ellenbogen. »Das verstehe ich nicht. Man wird sich doch wehren dürfen und froh sein, wenn man den Gegner besiegt hat.«
Joshua fiel die Antwort schwer, aber er versuchte eine Erklärung: »Der Talmud sagt, dass Gottes Zorn sich gegen denjenigen kehren könne, der sich über den Schaden des anderen freut.«
»Das kann ich nicht so recht glauben«, meinte Sean und ließ sich wieder in das Heu zurückfallen.
Joshua war jedoch nicht zu beirren: »Der Talmud verbietet uns Juden auch ein Gebet um Rache oder gar Gottes Strafe gegen unsere Widersacher herabzuflehen. Wir sollen sogar für unsere Feinde beten, dass sie in Reue umkehren.«
Sean schwieg, und Joshua spürte seinen stummen Protest. »Vielleicht kann Henri dir all dies besser erklären«, meinte er und erhob sich.
Henri hatte aufmerksam zugehört. »Komm zu mir, Sean. Ich möchte dir eine Geschichte erzählen.«
Sean hatte sich nach den Vorgängen des Morgens eigentlich vorgenommen, keinerlei freundliche Geste von seinem Herrn anzunehmen und die ausgestreckte Hand abzuweisen. Aber seine Neugier war stärker. »Was für eine Geschichte?«, fragte er brummig.
»Eines Tages schickten mich meine Oberen zu einem jüdischen Gelehrten, um dessen Geheimwissen, vor allem die Zahlenmystik der Juden, zu erforschen. Der Gelehrte damals war Joshua. Er erzählte mir eine Parabel, die mein ganzes Denken veränderte und schließlich Joshua zu meinem Freund machte.«
»Joshua ist auch so schon mein Freund«, bekannte Sean triumphierend. »Aber meinetwegen erzähle mir diese Geschichte, die du Parabel oder sonst wie nennst.«
Henri bemerkte sehr wohl, dass Sean ihn provozieren wollte. Aber er ließ sich nicht beirren. »Da gab es einen Sultan Saladin, der durch seine Prachtliebe all sein Geld verbraucht hatte. Darum versuchte er, einen vermögenden Juden mit einer schweren Frage in einen Handel zu verwickeln. Auf diesem Wege wollte er das Geld des Juden an sich bringen. Er verlangte zu wissen, ob das jüdische, das sarazenische oder das christliche Gesetz das wahre sei. An dieser Frage, so hoffte der Sultan, müsse der Jude scheitern.
Der weise Jude antwortete ihm, er habe von einem reichen Mann gehört, der von seinen drei Söhnen denjenigen zum Erben einsetzen wolle, der einen kostbaren Ring des Vaters in seinem Vermächtnis vorzeigen könne. Da er aber alle drei gleichmäßig liebte, ließ er bei einem Goldschmied zwei genau gleiche Ringe nach dem Muster des Originals anfertigen. Nach dem Tod des Vaters zeigte jeder der Söhne seinen Ring vor und beanspruchte das Erbe. Was glaubst du, Sean, wie sich dieses Problem löste?«
»Wahrscheinlich haben sie sich gegenseitig umgebracht«, mutmaßte der Junge.
Henri stutzte für einen Augenblick. »So könnte es gewesen sein«, gab er zu. »Aber in Wirklichkeit ist die Beantwortung der Frage immer noch in der Schwebe. Die Ringe sind nämlich nur ein Sinnbild für Glauben und Gesetz. Wem Gott den wahren Glauben gegeben hat, den Juden, den Christen oder den Sarazenen, lässt sich nicht feststellen. Darum müssen wir uns gegenseitig achten und anerkennen.«
Sean schüttelte den Kopf. »Ich glaube, dass der Abt von Cadouin mit dieser Antwort nicht zufrieden wäre. Und meine Mutter auch nicht.«
Joshua, der sich bis dahin zurückgehalten hatte, rückte näher. »Ich habe den Eindruck, dass unser kleiner Bursche mit solchen philosophischen Erörterungen überfordert ist. Vielleicht solltest du ihm von der Verfolgung berichten.«
»Das könnten wir gemeinsam tun«, schlug Henri vor. »Ich mache den Anfang. Noch vor der Auflösung des Templerordens waren die Juden Opfer der Geldgier König Philipps geworden. Jeder Jude, der nicht das vorgeschriebene Judenabzeichen, einen gelben Fleck, trug, wurde mit hohen Geldstrafen belegt. Schließlich, im Juli 1307, wurden alle Juden im Herrschaftsbereich des Königs verhaftet und ohne ihren ganzen Besitz ausgewiesen. Aber davon kann dir Joshua besser erzählen.«
»Du wirst dir nicht vorstellen können, was das bedeutet«, sagte Joshua zu Sean. »Aber eine Verfolgungsjagd, die kennst du seit heute. Die Meute, die uns damals verfolgte, war jedoch bei weitem gefährlicher und grausamer. Man trieb uns in unsere Bethäuser, verrammelte sie von außen und zündete sie an. Unsere Frauen waren Freiwild für die Männer, die sich wie gierige Wölfe auf sie stürzten. Man zertrümmerte unsere Tische, Bänke und Betten, zerschlug das Geschirr, zerfetzte unsere Kleidung und nahm uns auch die letzte Münze. Die unbarmherzigen Verfolger schlugen uns zu Boden, bespuckten und traten uns. Viele meines Volkes lagen blutüberströmt im Schmutz der Straße und verendeten dort, ohne dass jemand ihnen half. Aber ich fand einen Retter.«
Sean atmete schwer und erhoffte sich die Antwort, die er nun erhielt.
»Auch unser Haus brannte. Vergeblich versuchte ich, meinen Sohn zu retten, nachdem ich meine Frau, viehisch ermordet, in der Küche vorgefunden hatte. Gerade während ich den kleinen Samuel über die Schwelle tragen wollte, brach das Dachgebälk über uns zusammen. Als ich aus der Ohnmacht erwachte, lag ich unter freiem Himmel. Jemand hatte mich aus den brennenden Trümmern hervorgezogen. Das war Henri, der unter Einsatz seines Lebens vergeblich versucht hatte, auch meinen Sohn zu retten.«