Und Joshua sah zu ihm hoch und nickte ihm zu: »Ich weiß, was du denkst. Und ich werde dir helfen.«
Als sich die Menge allmählich zerstreute, weil der beißende Rauch sie vertrieb und sie sich an den Spaßen der Gaukler satt gesehen hatte, waren Henri de Roslin und Joshua ben Shimon längst auf einem Nachen auf der Seine – außerhalb der Stadt und in Sicherheit.
2
Dunkel und tief hingen die Wolken über der Wasseroberfläche, und ein böiger Wind trieb Nebelfetzen vor sich her. In der Ferne verzog sich langsam der Rauch des verglimmenden Scheiterhaufens.
Joshua ben Shimon beobachtete besorgt die morschen Fußplanken des Kahns. Langsam und stetig quoll Wasser durch die Ritzen. »Weit werden wir in diesem alten Nachen nicht mehr kommen.«
Aber mit kräftigen Schlägen handhabte Henri die Ruder und lenkte das Boot aus der Strömung zum seichten Ufer. Knirschend lief der Kahn auf den kiesigen Boden.
»Sei unbesorgt!«, beruhigte Henri seinen Gefährten. »Hier in der Nähe befindet sich das Gehöft eines ehemaligen Templers. Er gehörte zu den dienenden Brüdern und war in den Ställen tätig. Ohne Bedenken habe ich bei ihm mein Pferd und die Waffen hinterlassen, ehe ich nach Paris aufbrach.«
Joshua dachte an das Schicksal vieler anderer Templer. »Vielleicht ist auch er ein Opfer der königlichen Schergen geworden, und man hat ihn verhaftet.«
»Wohl kaum«, erwiderte Henri hoffnungsvoll. »Denn der alte Mann ist arm wie eine Kirchenmaus, und für Philipp gibt es auf dem ärmlichen Hof keine Reichtümer zu holen.«
Sie durchquerten eine sumpfige Wiese und ein Erlenwäldchen. Unter den dichten Zweigen war das armselige Gehöft fast nicht zu sehen. Es wirkte verlassen. Der Kettenhund verhielt sich still. Erst als sie näher kamen, entdeckten sie, dass er tot, offenbar erschlagen worden war. Kein Hahn krähte, kein Huhn gackerte.
Henri öffnete die Stalltür, die lose in den Angeln hing. »Gaston, Henri de Roslin ist hier. Dir droht keine Gefahr!«
Es raschelte im Heu. Ein Gesicht lugte vorsichtig durch die hölzernen Sparren des Heubodens. »Von unserem Leben seht ihr nur die äußere Schale«, flüsterte eine heisere Stimme von oben herab.
»Doch seht ihr nicht die ungeheure Kraft im Kern«, erwiderte Henri laut und deutlich. Nur eingeweihte Tempelbrüder kannten diese Worte, mit denen sie sich gegenseitig zu erkennen gaben.
Erst jetzt kletterte ein alter Mann die Leiter herab. Mit schwankenden Schritten humpelte er auf Henri zu. »Dem Himmel sei Dank, dass ich dich lebend wieder sehe!«
Entsetzt betrachtete Henri das Gesicht des Alten. Sein linkes Auge war zugeschwollen, die Wimpern versengt, die Wangen blutunterlaufen und die Ohren eingerissen. »Was hat man mit dir gemacht, mein armer Gaston?«
»Die Schergen des Königs wüteten im Hof und zerbrachen die Eingangstür«, gab der geschundene Bauer mit heiserer Stimme Auskunft. »Sie waren überzeugt, dass ich Geld versteckt hielt. Darum wollten sie mich mit Schlägen zum Reden bringen.«
»Diese Bestien!«, schrie Henri fast außer sich vor Wut. »Wir kommen soeben aus Paris. Sie haben unsere Großmeister Jacques de Molay und Geoffrey de Charney auf dem Platz vor der Kathedrale öffentlich verbrannt. Niemals werde ich ihren letzten Schrei vergessen. Sie haben König Philipp und den Papst verflucht. Ich aber werde diesen grauenvollen Fluch erfüllen!« Wie ein Gelöbnis sprach er die nächsten Worte: »Ich werde nicht eher ruhen, bis ich den Tod meiner Brüder gerächt und den verbrecherischen König getötet habe.«
Gaston wiegte seinen Kopf hin und her. »Begib dich nicht in Gefahr, Henri!«, sagte er leise. »Ich habe dein Pferd und deine Waffen in einer Hütte oben auf dem Hügel in Sicherheit gebracht. Ohne Aufenthalt müsst ihr weiterreiten! Denn noch immer streifen die Schergen des Königs am Seineufer entlang.«
Henri deutete auf seinen Begleiter. »Joshua ben Shimon ist ein jüdischer Gelehrter, der ebenso gefährdet ist wie ich auch. Aber er braucht einen Tag Ruhe.«
Gaston betrachtete den hageren kleinen Mann von Kopf bis Fuß. »Er sieht allerdings nicht sehr kräftig aus. Aber ich rate euch trotzdem, keinen Augenblick mehr zu zögern.« Er pfiff auf den Fingern, und auf der Leiter erschien mit ängstlichen Blicken eine Frau in zerfetzten Kleidern. »Meine Magd ist völlig verstört, denn sie hat Schlimmes erdulden müssen.«
Die Frau duckte sich, als sie die fremden Männer sah. Aber Gaston legte ihr die Hand auf die Schulter. »Die beiden sind Freunde. Bereite ihnen eine heiße Milchsuppe, und sicherlich haben wir auch noch ein Stück Brot im Haus!«
Ohne auf den Protest der beiden zu achten, ging er ihnen voraus dem Hügel zu.
Anscheinend hatte Gaston für das Pferd gut gesorgt. Der edle Kastilier schnaubte leise, blähte die Nüstern und scharrte mit den Hufen, als die drei die Hütte betraten. Fell und Nüstern glänzten sogar im Dämmerlicht der Hütte. Gerührt wollte Henri seinen Ordensbruder umarmen, aber Gaston bückte sich, wühlte im Stroh und brachte nacheinander Helm, Schild, Schwert und Lanze zum Vorschein. »Für den Gelehrten habe ich ein Pferd, wenn auch kein edles, sondern nur einen alten Falben. Du wirst den Gelehrten schützen müssen, denn Waffen habe ich nicht für ihn.«
»Joshua wird sich immer auf mich verlassen können«, versprach Henri. »Wir sind Gefährten und demselben Auftrag verpflichtet.«
Nach der Kälte des Flusses löffelten die Flüchtlinge dankbar die heiße Suppe. Beim Abschied griff Henri in seine Satteltasche, in der er vor seinem Aufbruch beträchtliche Summen versteckt hatte. Es fehlte nicht ein einziger Sous. Er drückte dem widerstrebenden Gaston einige Goldmünzen in die Hand und schwang sich in den Sattel, ehe der Bauer sich umständlich bedanken konnte.
Sie waren schon ein gutes Stück auf einem schmalen Waldpfad landeinwärts geritten, ehe Joshua endlich einige Worte sprach. »Wir müssen nach Bordeaux, das noch unter der Herrschaft der englischen Krone steht. Dort werden wir fürs Erste in Sicherheit sein, und Ihr… du… wirst wohl Landsleute finden, deren Sprache du kennst.«
Wie alle Ritter sprach Henri Französisch, wenn auch mit Akzent, aber als Schotte beherrschte er auch das Englisch der einfachen Leute.
»Da steht uns aber ein weiter Ritt bevor«, gab Henri zu bedenken. »Warum gerade bis nach Bordeaux?«
»Weil seit dem Pariser Frieden das Gebiet der englischen Krone bis auf den Küstenstreifen zwischen Bordeaux und Bayonne zusammengeschrumpft ist.«
»Du und deine Gelehrsamkeit!«, sagte Henri lachend. »Aber ich habe auch etwas Wichtiges vorzuweisen: nämlich eine Landkarte, die uns den Weg zeigen wird.«
Joshua lächelte und schwieg. Aber Henri hatte ihn auch ohne Worte verstanden. »Ja, ich weiß, was du einwenden möchtest. Wenn es finster ist, kann man keine Karten lesen. Wir müssen den Sternbildern folgen, um den Weg nach Süden zu finden.«
Gegen Abend, als sich schon die Dämmerung über den Wald legte, begann der Falbe zu lahmen. Joshua ließ sich aus dem Sattel gleiten und betrachtete die Sprunggelenke seines Reittiers. »Ich werde das Pferd führen müssen. Es ist besser, wenn du allein weiterreitest, um keine Zeit zu verlieren.«
Henri schüttelte energisch den Kopf. »Wir sind Gefährten und werden uns nicht trennen, ehe wir beide in Sicherheit sind. Allerdings ist es nicht ratsam, hier im Dickicht die Nacht zu verbringen. Vielleicht streifen Wölfe und Bären umher.« Er zog die Landkarte aus der Satteltasche und wies mit dem Finger auf einen kleinen Punkt. »An dieser Stelle müssten wir uns ungefähr befinden. Ganz in der Nähe scheint es einen kleinen Weiler zu geben. Da muss es doch möglich sein, in einem Gehöft Unterkunft zu finden, wo wir über Nacht dem Pferd kühlende Umschläge anlegen können.«
Er griff nach den Zügeln des Kastiliers und leitete sein Pferd über einen Pfad, der sich langsam verbreiterte und abwärts führte. Noch ehe die Dunkelheit ihnen die Sicht nahm, entdeckten sie unten im Tal einige strohgedeckte Gebäude. Henri blieb stehen und horchte aufmerksam in die Stille. »Wenn die Schergen des Königs bis in diese Einsamkeit vorgedrungen wären, gäbe es dort unten Schreie und Kommandorufe. Ich glaube, dass wir den Abstieg wagen und uns sehen lassen können.«