»Es darf aber niemals vergessen werden, dass der Templerorden aktiv an der Vertreibung der Juden beteiligt war«, mahnte Henri. »Dafür schäme ich mich heute noch. Ich habe nur versucht, wieder gutzumachen, was wir den Juden angetan haben.«
Joshua bat ihn zu schweigen. »Du hast viel mehr getan. Denn als mich die Meute als einen Brunnenvergifter beschimpfte und auch mich zu Boden schlagen wollte, hast du mich als Großmeister des Templerordens ausgegeben und damit gerettet.«
»Und nach alldem kannst du noch deinen Feinden vergeben und für sie beten, ohne Gottes Zorn auf sie herabzuwünschen?«, fragte Sean zweifelnd.
»Das lehrt uns der Talmud«, erwiderte Joshua.
»So«, sagte Henri zu Sean, »nun weißt du, wie ich Joshua kennen gelernt habe und was er mich gelehrt hat.«
»Ich aber werde Henri für alle Zeiten dankbar sein. Du hast ja nun selbst miterlebt, Sean, wie ich jederzeit auf seine Hilfe und seinen Schutz zählen kann.« Die beiden Männer reichten sich die Hände.
Sean stand auf. »Ich mag euch alle beide und möchte euer Freund sein. Oder muss ich warten, bis ich erwachsen und vernünftiger geworden bin?«
»Das musst du nicht«, lachte Henri, zog ihm die Beine weg, sodass Sean auf das Heulager zurückfiel. »Wenn du wieder Dummheiten machst, werde ich dir das schon deutlich sagen. Schluss jetzt mit den alten Geschichten. Morgen haben wir einen weiten Ritt vor uns.«
»Vielleicht könnten wir in irgendeinem Dorf auch etwas zu essen finden«, meinte Sean hoffnungsvoll.
»Das soll doch wohl hoffentlich keine Aufforderung zum Diebstahl sein!«, mahnte Joshua. »Da mache ich nämlich nicht mit.«
»Steht das auch im Talmud?«, fragte Sean. »Es kann doch keine Sünde sein, wenn wir ein paar Eier aus den Hühnernestern nehmen.«
Joshua zeigte sich ein wenig empört. »Hat dir deine Mutter niemals davon erzählt, wie Moses auf dem Berg Sinai von Gott die zehn Gebote empfing? Das achte Gebot heißt: Du sollst nicht stehlen, und das gilt auch für euch Christen.«
Sean wusste eine neue Entgegnung. »Aber steht denn nicht vielleicht auch im Talmud, dass man armen und hilfsbedürftigen Menschen helfen soll?«
Henri beendete jedoch diese theologischen Erörterungen mit einem simplen Vorschlag. »Du kannst ja versuchen, ein paar Eier aus den Nestern zu entwenden. Vielleicht erwischt dich der Bauer und verabreicht dir eine wohlverdiente Tracht Prügel. Das ist allemal noch die beste Unterweisung, was ein Diebstahl für Folgen nach sich ziehen kann. So jedenfalls hat man uns Jungen die Lehren des Templerordens eingebläut.«
Joshua schüttelte den Kopf, und Sean zog sich grollend in seine Ecke zurück.
10
Als sie am nächsten Morgen ihre Pferde sattelten, schlug Henri vor, dass man im nächsten Dorf in einem Gehöft die Tiere tränken solle, falls man bis dahin keine Quelle gefunden hätte. »Sean kann ja im Hühnerstall nach ein paar Eiern suchen, während wir um ein Stück Brot bitten.« Er lächelte bei dieser Bemerkung.
Sowohl Joshua als auch Sean verzogen ihr Gesicht. Beide empfanden diesen Scherz als unpassend. Henri wies auf eine kleine strohgedeckte Hütte. »In den großen Gehöften sind die Leute meistens sehr misstrauisch, weil sie öfter unter Überfällen zu leiden haben. Aber bei den armen Bauern vermutet niemand Reichtümer. Darum fühlen sie sich vor Fremden sicher.«
Im Hof der Hütte befand sich ein Ziehbrunnen mit einem rostigen Schwengel. »Hoffentlich ist der noch zu gebrauchen«, gab Joshua zu bedenken. »Einen Eimer, den man hinablassen könnte, sehe ich auch nicht.«
Henri gab Sean die Zügel seines Pferdes in die Hand. »Wartet hier! Ich werde mich drinnen erst einmal umschauen.« Er hatte Mühe, im Dunkel der Hütte überhaupt etwas zu erkennen. Aber dann fühlte er sich plötzlich an der Hand gefasst und erkannte ein etwa zwölfjähriges Mädchen, das eine viel zu große Schürze umgebunden trug. Henri wollte ihr die Angst vor einem Fremden nehmen. »Wir sind drei Männer auf einer Pilgerfahrt und bitten um etwas Wasser für unsere Pferde. Wo sind denn deine Eltern?«
Die Kleine wirkte völlig unbefangen. »Sie sind auf dem Acker und pflügen. Ich koche unseren Mittagsbrei.
Aber vorher helfe ich euch, die Pumpe in Gang zu setzen.« Sie ging voraus und betätigte trotz ihrer dünnen Arme mit bewundernswerter Kraft eine Kette. Ein erstaunlich sauberer Eimer kam zum Vorschein.
»Warte, ich helfe dir!«, rief Sean und warf Joshua die Zügel zu. Er hing sich neben das Mädchen an den verrosteten Schwengel, der sich quietschend in Bewegung setzte. Ein dicker Strahl klaren Wassers strömte aus der Tiefe. Henri sprang herbei, ergriff den gefüllten Eimer und brachte ihn zu den Pferden.
»Weiter so!«, rief er den Kindern zu. »Die Pferde sind sehr durstig.« Er sah, mit welchem Eifer Sean und das Mädchen ihrer Arbeit nachgingen. Aber er beobachtete auch, dass sich die beiden ziemlich eng aneinander drängten. Sie wirkten erhitzt, übereifrig und lachten sich gegenseitig an. Das hatte Henri nicht erwartet. Die ersten männlichen Gefühle seines Knappen hatte er sich anders vorgestellt. Darum schien es ihm geraten, dieser Tätigkeit ein Ende zu bereiten. »Vergisst du auch nicht deinen Brei im Kessel über dem Feuer?«, fragte er mahnend.
»Huch!«, schrie das Mädchen, ließ den Schwengel los und eilte davon. Sean wollte ihr folgen, aber Henri beorderte ihn mit einem scharfen Befehl zurück. »Erst werden die Pferde versorgt!«
Die Eltern des Mädchens hatten wohl auf dem nahen Acker die Stimmen auf dem Hof gehört. Die Frau spannte den Ochsen aus der hölzernen Pflugschar, während der Mann eilig zum Hof gelaufen kam. »Was führt euch zu uns? Wir sind arme Leute und haben nichts zu verschenken.«
Eilends kam das Mädchen aus der Küche gelaufen.
»Die drei sind Pilger und haben um Wasser für ihre Pferde gebeten. Der blonde Junge hat mir sogar geholfen, den schweren Brunnenschwengel in Bewegung zu setzen.«
Inzwischen war auch die Frau herangekommen, die den Ochsen mit einem Stecken zu einer schnelleren Gangart angetrieben hatte. Sie wirkte weder ängstlich noch argwöhnisch. Darum entschloss sich Henri zu einer höflichen Frage. »Wir sind schon sehr lange auf einer beschwerlichen Pilgerfahrt. Wenn Sie uns ein Stück Brot abgeben könnten, würden wir das natürlich bezahlen.«
»Ich habe einen großen Topf voller Gerstenbrei gekocht!«, rief das Mädchen. »Das reicht für uns alle.«
»Dann kommt von mir aus mit uns in die Küche«, erlaubte der Bauer den Fremden. Aber Henri beobachtete deutlich, dass er sein Messer griffbereit in den Gürtel steckte.
Das Mädchen hatte schon den großen Breitopf auf den rissigen Eichentisch gestellt und vier Löffel dazugelegt. »Wir besitzen nur diese Löffel«, sagte sie. »Aber der Junge kann ja den Löffel mit mir teilen.«
Diese vertrauliche Gemeinsamkeit geht mir aber allzu schnell, dachte Henri und schob Sean seinen Löffel hin. »Fang nur an! Du bist hungrig. Für mich wird schon etwas übrig bleiben.«
Die beiden Kinder wagten keine Widerrede.
»Geh in den Stall und füttere den Ochsen«, befahl der Bauer am Ende der kargen Mahlzeit seiner Tochter. Bereitwillig sprang das Mädchen auf und zog Sean von der Bank hoch. »Komm mit, du kannst mir helfen!«
Die Bauersleute erhoben keinen Einwand. Während die Frau am Herd umherschlurfte, einer dürren Katze einige Abfälle zuwarf und die Löffel mit einem Tuch abrieb, streckte sich der Bauer auf der Ofenbank aus. Unter halb geschlossenen Lidern beobachtete er die Fremden. Aber nach einer Weile kündigte sein lautes Schnarchen an, dass er eingeschlafen war.
Henri griff in seinen ledernen Brustbeutel und entnahm ihm einige Münzen, die er auf den Tisch legte. »Bist du einverstanden, wenn wir jetzt weiterreiten?«, fragte er Joshua. Sein Gefährte sah allerdings so aus, als ob er sich am liebsten auch eine kleine Ruhepause auf der Ofenbank gegönnt hätte. Aber er nickte und erhob sich bereitwillig.