Nur Sean blieb ihm heute Nacht noch als Gesprächspartner. Dieser würde wahrscheinlich ein aufmerksamer Zuhörer sein, auch wenn er selbst mehr zu sich als zu dem Jungen sprechen würde. Henri wandte sich ihm zu. »Sean, ich möchte dir von meinem langen abenteuerlichen Ritt durch die Welt der Sarazenen berichten. Magst du das hören?«
Sean, der schon ein wenig schläfrig war, wurde sofort hellwach. »Ja, sehr gern! Ich habe schon oft darüber nachgedacht, wo du dich wohl nach dem Verbot des Templerordens versteckt hieltest. Jedenfalls hat man dich nicht erwischt.«
Henri begann zu erzählen. Er hoffte, dass Sean mit seinem klaren und problemlosen Verstand die richtigen Antworten finden würde. »Mir war es damals mit Geld und guten Worten gelungen, vom französischen Hafen Toulon aus eine Schiffspassage nach Iskanderija zu ergattern. Welch eine Stadt war dieses Iskanderija! Paris ist gegen einen solchen orientalischen Souk nur ein schwacher Abglanz. Das Funkeln von Silber, Perlen und Edelsteinen blendet die Augen, die Düfte von Weihrauch, Muskat und Safran betäuben die Sinne. Aber für einen Templer wie mich waren das Herrlichste die scharfen Klingen aus Damaskus und die Waffen mit ihren kostbaren Gravuren, besetzt mit Elfenbein und Diamanten. Nachdem ich die Klingen mehrerer Waffen geprüft hatte, erstand ich nach längerem Feilschen einen kostbaren Dolch.«
»Besitzt du noch diese Waffe?«, fragte Sean gespannt.
Henri schüttelte den Kopf. »Leider nein! Und das kam so: Ich war so vertieft in alle diese Pracht, dass ich zu wenig meine Umgebung beobachtete. Plötzlich riss mich eine kräftige Faust in eine Nische zwischen die Buden. Zwei Männer packten mich von beiden Seiten und schlitzten mir das Obergewand auf, ohne dass ich mich wehren konnte. Wahrscheinlich hofften sie darauf, einen Geldbeutel zu entdecken, denn ich trug eine lederne Schnur um den Hals. Aber daran hing mein Talisman, den mir der Sarazene in Akkon geschenkt hatte, als ich ihn unter den Trümmern hervorzog. Seit damals hatte ich mich von dieser Münze niemals mehr getrennt. Aus unerfindlichen Gründen glaubte ich, dass sie mich vor Tod und Krankheit schützen würde.«
Sean schwieg und hielt den Atem an. Er wartete auf die Fortsetzung dieser aufregenden Begebenheit.
»Sie rissen an dem Band, das sich nicht lösen wollte. Wütend schnitten sie schließlich den Lederriemen durch. Offenbar war es nicht die Kostbarkeit, die sie erwartet hatten. Sie hatten schon die geballten Hände erhoben, um mir in ihrer Wut und Enttäuschung einen Faustschlag zu versetzen, als sie im Dämmerlicht einer Fackel die arabische Inschrift auf der Münze entdeckten. Beide schrien auf und wichen zurück.
Der Größere der beiden packte mit festem Griff das Handgelenk des Kleineren. Er wirkte völlig verstört, und seine Stimme klang verzerrt: ›Lass ihn laufen, sonst werden seine Kampfgefährten grausame Rache an uns nehmen. Er gehört zu einer geheimen Bruderschaft.‹ Der Kleinere konnte es jedoch nicht lassen, meinen edelsteinbesetzten Dolch mitzunehmen. Mir aber war es wichtiger, den Talisman behalten zu können.«
»Erzähle weiter!«, bat Sean. »Hast du diese gefährliche Stadt dann verlassen?«
»Ja, ich hatte Glück. Draußen vor den Toren lagerte eine Kamelkarawane. Der Älteste des Beduinenstammes war zunächst misstrauisch. Aber ich dachte mir: Was einmal so überraschend gewirkt hatte, könnte mir auch jetzt wieder von Nutzen sein. Darum zeigte ich meinen Talisman vor. Was mochte das für eine geheime Bruderschaft sein, der ich jetzt angehörte? Der Alte verbeugte sich tief und führte mir ein Kamel zu. ›Behalte es als dein Eigentum‹, sagte er. Weil er nur noch wenige Zähne hatte und kaum zu verstehen war, glaubte ich an einen Irrtum. Er versorgte mich noch mit einer handgewebten Decke, die mir in den kalten Wüstennächten gute Dienste tat. Als die Karawane aufbrach, gab mir der Älteste ein Zeichen, dass ich neben ihm an der Spitze des langen Zuges reiten solle. So führte ich für viele Monate das Leben eines Berbers.«
»Das kann ich mir kaum vorstellen«, warf Sean ein.
Henri versuchte eine Erklärung. »Wenn man so lange Zeit unter Berbern lebt wie ich, dann fühlt man wie sie, denkt wie sie und handelt auch wie sie. Das sollte sich noch als gut erweisen. Aber davon erzähle ich dir später, wenn ich dir von der Wüstendurchquerung auf dem Weg nach Bagdad berichte. Dort sollte unsere Karawane enden.
Unser Ritt führte uns aber zunächst nach Damaskus. Diese Stadt ist nicht so prächtig und bunt wie Iskanderija. Für mich sollte sich aber Damaskus als lebenswichtig erweisen. Denn ich erwarb dort einen Säbel aus Damaszenerstahl. Das ist etwas Besonderes. Diese Klingen sind sehr elastisch. Dünne Stäbe aus hartem und weichem Stahl werden miteinander verschweißt. Du erkennst diesen Stahl an der flammigen oder blumigen Musterung.«
»Ist dir wenigstens dieser Säbel geblieben?«, erkundigte sich Sean.
»Nein!«, erwiderte Henri kurz angebunden. Er wollte hierüber keine Auskunft geben. »Damaskus ist ein Treffpunkt aller Karawanen. Auch die Pilger nach Mekka sammeln sich dort. Wir blieben aber nur eine Nacht in Damaskus, übernachteten in einer Karawanserei und brachen am nächsten Tag in der Frühe zu unserem Ritt durch die Wüste auf. Ich will dich nicht mit der Eintönigkeit dieser Wochen langweilen, obwohl auch die Wüste mit ihren Sonnenaufgängen und dem nächtlichen Sternenzelt ihre Schönheiten hat.«
»Lieber möchte ich jetzt etwas von den Gefahren hören, die überall in der Wüste lauern«, gab Sean zu.
Henri nickte. »Wenn du Skorpione und Sandvipern, die sengende Hitze und die schrecklichen Sandstürme meinst, so könnte ich dir viel von den Gefahren der Wüste erzählen. Aber ich weiß schon, was du meinst. Also, dann schlafe jetzt nicht ein! Denn nun wird es spannend für dich.
Es war in einer jener kalten Wüstennächte. Die hohen Flammen des Lagerfeuers waren in sich zusammengesunken. Nur ein letztes Glimmen gab noch ein wenig Wärme ab. Ich hatte mich in meine warme Decke gehüllt, den Sattel unter den Kopf geschoben und horchte auf das gleichmäßige Kauen der Kamele. Der Alte neben mir atmete rasselnd mit offenem Mund und wurde ab und zu von einem heiseren Husten geschüttelt. Diese gleichmäßigen Geräusche schläferten mich allmählich ein.
Wir hatten Wachen aufgestellt. Ein hoher Schrei des Wachtpostens riss uns alle aus dem Schlaf. Wir griffen zu unseren Waffen. Aber für eine Gegenwehr war es zu spät. Über den Dünenkamm stürmten verwegene Gestalten auf schnellen Araberpferden herbei, umzingelten uns und bedrohten uns mit Messern und Krummsäbeln. Offensichtlich hatten sie es auf unsere Lasttiere abgesehen und erhofften sich reiche Beute. Sie fesselten den Alten mit Ketten und setzten ihm ein Messer an die Kehle. Einige der Angreifer lösten die Fesseln von den Vorderfüßen der Kamele und führten die ersten Tiere die Dünen hinauf. Andere legten die jungen Männer in Ketten. Ich nehme an, dass sie dazu ausersehen waren, als Sklaven verkauft zu werden. Unser Karawanenführer versuchte röchelnd, mir etwas verständlich zu machen. Als man auch mich in Ketten legen wollte, hatte ich endlich verstanden.
Ich zog mein Amulett hervor und hielt es empor, so wie es die Mönche mit dem christlichen Kreuz vor einer Teufelserscheinung tun. Obwohl ich mir nach den jüngsten Erfahrungen einen hilfreichen Erfolg versprochen hatte, konnte ich kaum fassen, was nun geschah. Mit lautem Geschrei wurden die Räuber zurückbeordert, die mit unseren Kamelen fast schon den Dünenkamm erreicht hatten. Die anderen ließen Ketten und Fesseln fallen, befreiten sogar unseren Karawanenführer und traten drei Schritte von mir zurück. Sie verbeugten sich sogar, ehe sie auf ihren Araberpferden davonstürmten. Der Spuk war fast ebenso schnell vorbei, wie er gekommen war.