Die Tür zu einem Nebenraum öffnete sich, und ein Mann in mittleren Jahren trat ein, den Henri aufgrund der Ähnlichkeit sogleich als Hischams Vater erkannte. Hischam verbeugte sich, und Henri machte es ihm nach. Mit einem Wink wurden die beiden aufgefordert, auf den seidenen Kissen Platz zu nehmen, die sich auf dem Boden türmten.
Hischam wartete, bis ihn sein Vater zum Reden aufforderte. Er sprach auffällig leise. »Dies ist Kamil, ein Mitschüler in meiner Schule. Er möchte sich in den Lehren des Korans vervollständigen.«
Der Gelehrte nickte beifällig, und darum fuhr Hischam fort: »Kamil zeigte mir eine Münze mit der arabischen Aufschrift alhamdulilah. Dieser Talisman ist das Geschenk eines Sarazenen, dem Kamil in einem Kampf das Leben gerettet hat.«
Henri wagte kaum, an die Belagerung von Akkon zu denken. Denn damals handelte es sich doch um einen Kampf der Templer gegen die Sarazenen. Inständig hoffte er, dass Hischams Vater keine weiteren Fragen stellen würde.
Das Gegenteil trat ein. Der so überlegen wirkende Mann erbleichte, schwieg für einen Augenblick, fasste sich aber gleich darauf. Er erhob sich. »Macht mir die Freude, mein lieber Kamil, heute unser Gast zu sein.« Er klatschte in die Hände, und einer der Diener erschien augenblicklich. »Man richte für unseren Gast ein reichhaltiges Mahl!«
Die Unterhaltung war zunächst beendet. Er wandte sich an seinen Sohn. »Gehe mit deinem Freund in den Garten! Ihr könnt euch auf der steinernen Bank am Springbrunnen in den Koran vertiefen und die Lehren des Propheten studieren. Das wird, außer den leiblichen Genüssen, ein Gewinn für unseren Gast sein.«
Henri hatte sich überlegt, dass ihn ein Gespräch über die Suren des Korans vor weiteren Fragen Hischams schützen würde. Darum fragte er nach der Bedeutung der Sure, die sie am Morgen gehört hatten.
Hischam wirkte verlegen. »Unser Lehrer sprach über die Sure At-Taghabun, die Sure über die wechselseitige Zu- und Abnahme. Auswendig kann ich sie jetzt auch nicht hersagen.«
»Ach«, warf Henri ein und tat erstaunt. »Ich habe geglaubt, dass jeder Gläubige den Koran auswendig hersagen kann.«
»Dazu bin ich noch zu jung«, entgegnete Hischam. »Du kannst es ja auch nicht, obwohl du älter bist.«
Henri bemerkte, dass das Gespräch eine gefährliche Wendung nahm. »Deklamiere mal das, was du behalten hast«, sagte er versöhnlich.
Hischam erhob sich von der steinernen Bank und rezitierte:
»Wer an Gott glaubt und Gutes tut, dem sühnt er seine Missetaten, und den lässt er in Gärten eingehen, unter denen Bäche fließen; darin werden sie auf immer weilen. Aber diejenigen, die ungläubig sind, das sind die Gefährten des Feuers; darin werden sie ewig weilen – welch schlimmes Ende!«
Henri dachte, dass sich diese Aussage des Propheten gar nicht so sehr von den biblischen Texten unterscheide. Denn die Sure sprach vom Paradies und von der Hölle. Eine Stellungnahme blieb ihm erspart. Ein Diener kam in den Garten, verbeugte sich und bat die beiden jungen Herren zum Mahl.
Noch niemals hatte Henri eine so reich gedeckte Tafel gesehen. Eine Decke aus Damast war mit Früchten aller Art übersät: Melonen, Pflaumen, Pfirsiche, Granatäpfel, Quitten, Kirschen, Apfelsinen, Trauben, Bananen, Feigen, Artischocken und Auberginen. Zwei Diener schöpften aus einer silbernen Terrine eine hellgrüne Kräutersuppe, deren Bestandteile Henri nicht zu ergründen vermochte. Danach wurde ein Hammel aufgetragen, den die Köche zuvor draußen am Spieß gedreht hatten. Am besten schmeckte Henri die arabische Süßigkeit, die zum Nachtisch gereicht wurde – die beliebte Baqlawa, ein Blätterteiggebäck mit Honig und Mandeln.
Der Hausherr füllte persönlich die irdenen Trinkgefäße. »Ihr braucht keine Sorge zu haben, dass wir mit Alkoholgenuss gegen die Gebote Muhammads verstoßen. Dieses Getränk wird aus Datteln hergestellt, die meine Köche mehrere Tage lang in Wasser angesetzt und mit Ziegenmilch aufgefüllt haben.«
Henri gab sich Mühe, nach der langen Zeit des Darbens nicht allzu gierig zu erscheinen. Er war froh, als der Hausherr die Tafel aufhob und Henri in einen Nebenraum bat. Das Gespräch bei Tisch hatte sich um die Astronomie gedreht. Mehrmals hatte der Gelehrte beifällig genickt, wenn Henri sich als Kenner der Sternenkunde erwiesen hatte.
»Ihr seid sehr gebildet, mein junger Freund«, eröffnete er die Unterhaltung. »Seid Ihr im Kartenlesen ebenso bewandert wie in der Astronomie?«
Henri nickte bescheiden. Noch wusste er nicht, wohin das Gespräch führen sollte.
Der Gelehrte rückte näher und senkte die Stimme. »Es dürfte Euch nicht unbekannt sein, dass vor fast 60 Jahren, im Jahre 634 der Hedschra, die Mongolen Alamut, die Felsenfestung der Assassinen, erobert und alle Assassinen ermordet haben, die sich nicht in Sicherheit bringen konnten. Wir waren nur ein kleines Häuflein, dem nach erfolgloser Gegenwehr die Flucht gelungen war.«
»Ich habe davon gehört«, sagte Henri. Der Anhänger Muhammads hatte seine eigene Zeitrechnung. Henri überschlug die Daten. Der Gelehrte hatte vom 1256. Jahr der Fleischwerdung Christi gesprochen.
»Wir hielten zusammen, aber im Jahre 651 wurde die letzte Festung der Assassinen zerstört. Wo sollten wir uns hinwenden? Längst waren wir keine Meuchelmörder mehr, die auf Befehl des Alten vom Berge missliebige Personen ermordeten. Euch ist sicher zu Ohren gekommen, dass nicht nur der Franke und Kreuzfahrer, Graf Raimund von Tripoli, und der ungläubige König von Jerusalem, Konrad von Montferrat, sondern auch der heidnische Herzog Ludwig von Bayern von unseren Attentätern erstochen wurden.«
Davon hatte man sich bei den Templern erzählt. Aber Henri zog es vor zu schweigen.
Weil keine Antwort kam, fuhr der Gelehrte in seiner Rede fort. »Aber diese Zeiten sind schon lange vorbei. Wir ehemaligen Assassinen gründeten eine Bruderschaft und schworen einen heiligen Eid, uns in jeder Gefahr beizustehen. Tapferkeit und Hilfsbereitschaft sollten unsere Tugenden sein, nicht etwa Mord und Heimtücke. Jeder von uns sollte zum Zeichen der Zugehörigkeit stets eine alte syrische Münze bei sich tragen.« Er zog eine Kette aus seinem Hemd und wies Henri die Inschrift vor. Es war ein Duplikat jener Münze, die der Sarazene Henri in Akkon übergeben hatte und die er seitdem stets bei sich trug.
Auch Henri brachte seinen Talisman zum Vorschein. Jetzt endlich wusste er, was es mit dieser Münze für eine Bewandtnis hatte. Längst hatte es sich wohl herumgesprochen, dass die ehemaligen Assassinen eine Bruderschaft gegründet hatten. Offensichtlich brachte man sie aber noch immer mit Mord und Attentaten in Verbindung. Darum wichen auch die wildesten Angreifer zurück, wenn sie diese alte Münze, das Erkennungszeichen der gefürchteten Assassinen, erblickten. Der frommen Inschrift auf der Vorderseite trauten sie nicht. Wer wollte schon die Rache der gesamten Bruderschaft auf sich ziehen, wenn man einen der Ihrigen tötete oder verletzte?
Der Gelehrte verließ für kurze Zeit den Raum. Henri wartete beunruhigt. Ob er eine der Wachen rief, um ihn festnehmen zu lassen? Aber Hischams Vater kehrte nach wenigen Augenblicken mit einigen Papierrollen zurück.
»Ich werde Euch eine Land- und eine Sternenkarte mit auf den Weg geben. Sie werden Euch den Weg nach Aleppo zeigen, wo sich einige von uns nach dem Mongoleneinfall angesiedelt haben«, erklärte er Henri. »Außerdem vertraue ich Euch ein versiegeltes Schreiben an. In Aleppo erhebt sich auf einem hohen Felsen eine Festung, deren Kommandant zu den Unsrigen gehört. Übergebt ihm dieses Schreiben! Er wird Euch vielleicht zu dem Mann führen, den Ihr sucht.«