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Henri verbeugte sich tief, um seine Röte zu verbergen. Er fühlte sich als Lügner und Betrüger und konnte nur mit Mühe einige Dankesworte stammeln.

»Ich habe noch eine Bitte«, sagte der Gelehrte zum Abschied. »Schweigt gegen jedermann über unser Gespräch, vor allem gegen Hischam. Ich möchte nicht, dass mein Sohn von meinem Vorleben als Assassine erfährt, obwohl ich niemals einen unschuldigen Menschen getötet habe.« Er umarmte Henri und geleitete ihn zur Tür. »Allah akbar – Gott ist groß!«, gab er ihm als Abschiedsgruß mit auf die Reise.

»La ilah illa Allah – Es gibt keinen Gott außer Gott«, antwortete Henri. Er war überzeugt, dass diese arabischen Worte auch in der christlichen Religion ihre Gültigkeit hatten.

Draußen vor dem Tor wartete Hischam. »Was hat mein Vater zu dir gesagt?«, fragte er neugierig. »Wirst du morgen wieder in die Schule kommen?«

Henri tat es Leid, dass der Gelehrte ihm Stillschweigen auferlegt hatte. Gerne hätte er seinen Freund über das Gespräch unterrichtet und ihm das Reiseziel genannt. Er umarmte ihn. »Ich danke dir für alles, was du für mich getan hast. Wir müssen Abschied nehmen, aber ich bin sicher, dass wir uns irgendwann einmal wieder sehen werden, in Bagdad oder anderswo. Allah akbar!« 

13

Henri brach frühzeitig am nächsten Morgen auf. Die Sonnenstrahlen hatten soeben die oberste Galerie der Moschee hinter der Herberge erreicht. Laut erklang der Ruf des Muezzin. Henri beeilte sich, die Stadt zu verlassen, ehe die Schar der Gläubigen zum Gebet eilte. Die Schönheit des Morgens erfreute ihn so sehr, dass er gerne gesungen hätte. Aber er kannte nur die Lieder der Kreuzfahrer und wollte nicht unnötig Aufsehen erregen.

Er hatte die Stadt in westlicher Richtung verlassen und erreichte den Euphrat, als die Sonne schon im Westen stand. Eine Furt war nicht schwer zu finden, denn zahlreiche Eselskarren aus dem bäuerlichen Umland waren auf dem Weg zur Stadt. Sie hatten Obst und Gemüse geladen. Henri musste an die reich gedeckte Tafel des Astronomen denken. In den Elendsgebieten konnte sich wohl niemand diese Köstlichkeiten leisten. Nur Fladenbrot gab es in der Gasse zu kaufen, wo seine Herberge angesiedelt war. Auch das war für manche unerschwinglich, sodass sie einen heimlichen Griff in die Taschen gut gekleideter Leute tun mussten.

Henri zog die Landkarte zu Rate und suchte nach einer kleinen Ansiedlung, wo er nach Unterkunft fragen wollte. Als er die Karte entrollte, stieß er einen Überraschungsschrei aus. Hischams Vater hatte dort einen Stoffbeutel mit einer beträchtlichen Anzahl wertvoller Geldmünzen eingewickelt. Er überlegte sich, wie er jemals seine Dankbarkeit zeigen könnte. Ob überhaupt irgendwann einmal?

Er wählte eine Lehmhütte inmitten eines Feldes, das noch brachlag. Ein Kettenhund bellte wütend, riss sein Maul auf und zeigte ein Furcht einflößendes Gebiss. Unter den tief hängenden Balken im türlosen Eingang erschien ein ältlicher Mann. Er war offensichtlich in beträchtlicher Erregung, denn er erwiderte nur flüchtig Henris Gruß »Allah akbar!«. Dass ihm von Henri keine Gefahr drohte, musste er wohl erkannt haben. Denn er zog ihn am Ärmel in die Hütte.

Im Inneren hantierte eine auffällig junge Frau an der offenen Feuerstelle. Mit fahrigen Gesten und gelegentlichen Faustschlägen auf eine ohnehin brüchige Tischplatte unterrichtete der Mann den Gast über den Grund seiner Empörung.

Drei Männer aus einem Nachbarort hatten seinen Söhnen aufgelauert, um sie zu berauben. Was es da wohl zu rauben gegeben hatte, dachte Henri. Zum Glück aber sei einer aus seiner Sippe, der in der Nähe seiner Feldarbeit nachging, seinen Söhnen zu Hilfe geeilt. Sie hätten gemeinsam den Angriff abgeschlagen. Aber Allah habe gewollt, dass dieser Freund im Kampf sein Leben verlor. Inshallah!

Die Stimme des Bauern wurde immer erregter. »Unsere Dorfsippe hätte Ansehen und Ehre verloren, wenn wir das hingenommen hätten. Wir zogen in die Ansiedlung der Räuber, plünderten alles, was sich nur fortschleppen ließ, und steckten die Häuser in Brand.«

»Das haben die sich so ohne weiteres gefallen lassen?«, fragte Henri, obwohl er schon die Antwort kannte.

»Nein!«, schrie der Erzähler in höchsten Tönen. »Sie haben sich an den Richter in Aleppo gewandt. Meine Söhne wurden in Ketten davongeführt. Manchmal darf ich sie im Gefängnis besuchen. Aber für diese Gutmütigkeit des Wächters muss ich viel Geld zahlen.«

Henri versuchte, das Thema zu wechseln. »Habt Ihr noch mehr Söhne?«

»Ja, vier! Gelobt sei Allah! Jede meiner zwei Frauen hat mir zwei Söhne geschenkt. Ich hoffe, dass mir Aischa noch viele Söhne schenken wird. Sie ist noch jung, wie Ihr seht. Aber sie hat mich auch sehr viel Geld gekostet. Denn ich musste nicht nur dem Gatten viele Ziegen und meine einzige Kuh geben, sondern dem Richter dazu noch eine hohe Summe hinlegen.«

»Hat sie sich denn gerne fortnehmen lassen?«, fragte Henri, der an eine Entführung glaubte.

Der Mann lachte. »Allerdings! Denn ihr Mann war alt und gebrechlich und konnte einem so jungen Weib nicht das geben, wonach sie verlangte.«

Die junge Frau wandte sich um. Da sie im Haus un-verschleiert ging, blickte Henri in ein rundes Kindergesicht mit faltenloser Haut, blitzenden braunen Augen und vollen roten Lippen. Der Mann ergriff ihre Arme und schob sie zur Stiege, die nach oben führte. Sicherlich war er der Meinung, dass der Gast schon zu viel gesehen hatte. Als die Frau die Stufen emporhüpfte, erklang ein leises Bimmeln. Henri sah ihr nach und erkannte mehrere fein ziselierte Glöckchen, die sie an einem Band um das Fußgelenk trug.

Der Mann sah Henris Blick und stand auf. »Ihr könnt in der kleinen Scheune hinter der Hütte schlafen. Ich selbst liege bei meiner Frau.« Der letzte Satz klang drohend. Wer einem anderen die Frau weggenommen hatte, musste allerdings Grund zum Misstrauen haben, dachte Henri. Er konnte das verstehen, aber er war ein wenig verärgert darüber, dass man ihm zutraute, die Gastfreundschaft auf solch üble Weise zu vergelten.

Von seinem Liegeplatz in der armseligen Scheune sah er geradewegs durch ein Loch in den nachtblauen Himmel. Das strohgedeckte Dach war schadhaft und ließ Regen und Wind in das Innere. Der gestampfte Lehmboden war feucht. Sein Hengst scharrte mit den Hufen und suchte vergeblich nach Stroh. So entschloss sich Henri, noch in der Nacht weiterzureiten, um für sein Ross Nahrung zu finden. Er hinterließ einige Münzen auf der Ofenbank und trat ins Freie.

Draußen war es hell. Der Halbmond spendete genügend Licht, um die Sternenkarte zu lesen. Ohne Mühe erkannte er am Himmel die Sternzeichen, die ihm den Weg weisen würden. Henri hatte auf der Landkarte einen See entdeckt, der sich Homs nannte. Wo es einen See gab, musste es wohl auch saftige Wiesen geben.

Er hatte sich nicht getäuscht. Zwischen dichtem Weidengebüsch blitzte im Mondlicht das Wasser eines ausgedehnten Sees. Er ließ seinen Hengst, den er wegen seiner arabischen Abstammung Barq, Blitz, genannt hatte, das klare Wasser trinken und auf den saftigen Wiesen grasen. Er selbst hätte gerne ein Bad genommen, aber die Ortschaft lag allzu nahe. Nach dem Bericht seines Gastgebers fühlte er sich unsicher. Diese Bevölkerung hier hatte sich doch als außerordentlich angriffslustig erwiesen.

Seine Vorsicht war berechtigt. Barq, der am Seeufer stand, den Kopf tief geneigt hatte und mit langen Zügen das Wasser einsog, hob plötzlich seinen Kopf. Er spitzte die Ohren und schnaubte leise. Henri beobachtete die Erlen, mit denen das Ufer umgeben war. Der Mond war schon untergegangen, sodass die Büsche im Schatten lagen. Aber da er nicht nur mit einem untrüglichen Gefühl für drohende Gefahren, sondern auch mit einem überdurchschnittlich guten Gehör ausgestattet war, vernahm er ein leises Knacken im Gehölz. Er fasste sein Pferd am kurzen Zügel, zog sein Schwert aus der Scheide und blieb lauschend stehen.