Der alte Mann trank aus der Tasse, die ein Diener des Hauses ihm überreicht hatte, und begann: »Es ist mir berichtet worden, dass einmal ein Sperling zu einer Schafhürde flog. Wie er nun jene Hürde anschaute und sitzen blieb, da stieß plötzlich ein Adler auf ein junges Lamm nieder, packte es mit seinen Krallen und flog davon. Als der Sperling das sah, schlug er mit den Flügeln und rief: ›Ich will tun, wie der da getan hat!‹«
Henri bemerkte, dass al-Kadir ihn beobachtete und von der Seite angrinste. Er verfolgte aufmerksam den Fortgang der Geschichte. Der Sperling setzte sich nämlich in seinem Größenwahn auf einen fetten Widder, um ihn davonzutragen. Aber er verwickelte sich in der verfilzten Wolle, die schon im Dung gelegen hatte. Der Hirte, der über den Verlust seines Lammes wütend war, ergriff den Sperling, band seine Füße zusammen und warf ihn seinen Kindern vor. Henri ahnte das Ende, das der Alte nun erzählte. »›Was ist das?‹, fragte eines der Kinder, und der Hirte antwortete: ›Dies ist einer, der es einem Höheren gleichtun wollte und dadurch ins Verderben geriet.‹«
Die drei Männer klatschten Beifall, und Henri schloss sich ihnen an, weil er sich beobachtet fühlte. »Ja, so kann es einem ergehen, der sich Dinge anmaßt, die ihm nicht zustehen«, erklärte al-Kadir mit feistem Lächeln. Hatte er dem Alten befohlen, gerade diese Geschichte zu erzählen? Wollte er Henri als minderwertigen Sperling bezeichnen und sich selbst zum Adler erhöhen? War das eine Drohung?
Henris Stimmung schwankte zwischen Wut und Mitleid. Konnte er es irgendwie verhindern, dass die kleine Madonna in die Hände dieses widerwärtigen Mannes geriet? Aber das war doch eigentlich die Sache des Vaters. Er selbst würde Aleppo verlassen und versuchen, niemals mehr an Leila zu denken.
Ihm fiel ein Minnelied ein. Das würde ihn später trösten, wenn er bei jeder Mariendarstellung an Leila denken musste.
»Wer mir schadet bei meiner Herrin, dem wünsche ich den dürren Ast, daran die Diebe ihr Ende nehmen.« Er war so sehr in seine Gedanken vertieft, sah im Geiste schon al-Kadir an einem Ast baumeln, dass er beinahe den Aufbruch des mächtigen Mannes verpasst hätte. Sie sahen sich beide mit kaltem Blick in die Augen. Keiner wich dem anderen aus.
Henri verspürte das Bedürfnis, Luft zu schöpfen, um im Freien seine Gedanken zu ordnen. Er wanderte unter den Aprikosenbäumen hin und her. Ihm fiel sein erstes Erlebnis mit einem Mädchen ein. Das war schon lange her, damals, als er noch sehr jung gewesen war, fast noch ein Kind. Mit Liebe hatte das nichts zu tun. Nur ihre Körper hatten sich vereint, aber nicht die Seelen. In der Erinnerung erschien ihm diese Vereinigung schal, fast abstoßend. Seine brennende Sehnsucht, das Angesicht der kleinen Madonna betrachten zu dürfen, blieb keusch. Narrte ihn die nächtliche Stunde? Oder stand dort Leila an den Stamm eines Baums gelehnt? Es war ihm nicht möglich, auch nur einen einzigen Schritt zu tun. So blieb er in der Entfernung stehen. Wie sie dort an dem Baum lehnte, wollte er sie in Erinnerung behalten: Unverschleiert bot sie ihm ihre Schönheit dar, stumm, mit ausgestreckten Händen.
Wie lange sie beide reglos im Schatten der Aprikosenbäume gestanden hatten, wusste er später nicht mehr zu sagen. Wenn es ein Traum gewesen war, erwachte er jetzt jäh in der Wirklichkeit. Von zwei Seiten packten ihn starke Arme und hielten ihn fest. Al-Kadir stand drohend vor ihm. »Wenn du dich noch ein einziges Mal meiner zukünftigen Frau näherst, werde ich dich töten«, zischte ihm der Mann zu. »Auch Leila werde ich so zurichten, dass sie niemals mehr in Versuchung geraten wird, sich einem fremden Mann zu zeigen. Hast du das verstanden, du armseliger Sperling?«
Diese letzte Drohung brachte Henri dazu, mit dem Kopf zu nicken.
Aber al-Kadir unterstrich den Ernst seiner Ankündigung mit einem kräftigen Faustschlag in die Magengrube, der Henri fast den Atem nahm. Das schien al-Kadir aber nicht zu genügen. Er befahl einem seiner Knechte, Henri einen Tritt in den Unterleib zu versetzen. Obwohl Henri schon halb ohnmächtig zu Boden gegangen war, gab er auch dem anderen Knecht den Befehl, den Tritt an derselben Stelle zu wiederholen.
Als Henri wieder zu sich kam, verspürte er so furchtbare Schmerzen, dass er sich nur mühsam in das Haus seines Gastgebers schleppen konnte. Alle anderen waren schon zu Bett gegangen. Wahrscheinlich hatte Umar angenommen, dass sein Gast die laue Nacht zu einem Spaziergang nutzen wollte.
Am nächsten Morgen wurde er von Umar freundlich begrüßt. Henri aber beschlichen Zweifel, ob er wirklich nichts von den nächtlichen Vorfällen bemerkt hatte. Warum hatte er sonst so schnelle Entschlüsse gefasst? Umars Stimme klang beherrscht. »Lieber Freund«, redete er Henri an und legte ihm eine Hand auf den Oberarm. »Mein ungebärdiger Sohn macht mir große Sorge. Ich darf nicht zögern, ihn nach Cordoba zu schicken, wo ihn Lehrer in strenge Zucht nehmen sollen. Da ich fürchte, dass er sich auf der Reise nach Andalusien wieder in Händel verwickeln lässt, habe ich eine Bitte an dich.«
Henri wusste, was nun folgen würde. Umar würde versuchen, ihn auf freundschaftliche Art loszuwerden. Ob er nicht doch die Auseinandersetzung unter den Aprikosenbäumen beobachtet hatte und gegen seinen zukünftigen Schwiegersohn nicht eingreifen wollte? Henri sollte es nie erfahren.
»Auch du wirst den Orient wieder verlassen wollen, so gern ich dich auch noch einige Tage als Gast beherbergt hätte«, behauptete Umar. »Aber ich habe für meinen Sohn eine Schiffspassage von Antiochia aus gefunden. Der mir befreundete Schiffseigner, der mir einen Gefallen schuldet, wäre bereit, auch euch mit an Bord zu nehmen. Eile tut allerdings Not, denn al-Husain ist an Verträge gebunden. Ihr müsst noch heute aufbrechen.«
Henri wusste Bescheid. »Mit Freuden werde ich den ehrenvollen Auftrag annehmen, Euren Sohn zu begleiten. Ich danke für Euer Vertrauen.« Er verbeugte sich zeremoniell und ließ sein Pferd aus dem Stall holen. Umar begleitete ihn und seinen Sohn nach draußen, umarmte zuerst seinen Sohn und dann Henri, der dies als heuchlerisch empfand.
Henri zog seine Damaszenerklinge hervor. »Diese Waffe weihe ich deiner Tochter, wenn solch eine Geste im Orient auch nicht üblich ist. Ich möchte mich damit für deine Gastfreundschaft bedanken und spreche gleichzeitig die Bitte aus, dass du das Leben und Wohlergehen deiner Tochter mit dieser Klinge beschützen mögest.«
Umar schwieg. Er hatte im Heiligen Land davon gehört, dass die westlichen Ritter manchmal ihre Waffen einer verehrten Dame weihten. Diese Gabe konnte er nicht zurückweisen, ohne seinen Gast zu beleidigen.
Er nahm die dargereichte Damaszenerklinge entgegen und trug sie schweigend ins Haus. Henri wusste, dass er seine kleine Madonna niemals wieder sehen würde.
15
Uthman war ein angenehmer Reisegefährte. Freimütig erzählte er von seinem wilden Leben, in dem auch die Frauen eine bedeutsame Rolle gespielt hatten. Aber immer wenn Henri etwas über Leila wissen wollte, schwieg er beharrlich. Henri gab nicht nach. »Meinst du nicht auch, dass al-Kadir nicht der richtige Gatte für deine kleine Schwester ist?«
Uthman wollte diese heikle Frage ein für allemal erledigen. »Bei uns beschließt der Vater, mit wem er seine Tochter verheiraten will. Eines kann ich dir jedoch versprechen: Sollte ich heimkehren und meine Schwester unglücklich vorfinden, werde ich diesen Fettwanst töten.«
»Dabei werde ich dir helfen. Darauf kannst du dich verlassen«, versprach Henri.
Je näher sie Antiochia kamen, umso mehr verließ Henri seine düstere Stimmung. Sie ritten am wilden Fluss Orontes entlang, ließen ihre Pferde in den saftigen Wiesen grasen und legten sich auf die Uferböschung, um zu rasten. Uthman rekelte sich wohlig in der Sonne. »Es gibt ein gutes arabisches Sprichwort, an das ich mich stets gehalten habe. Das solltest du auch tun. Drei Dinge sind es, die das Herz von Kummer befreien: Wasser, grünes Gras und Frauenschönheit. All das ist dir in unserem Land geschenkt worden. Letzteres sogar im Übermaß. Darum sei jetzt fröhlich!«