Henri umarmte ihn. »Komm bitte mit nach draußen und hilf mir, dieses Vieh zu verscharren! Mehr verdient er nicht!« Ihm kam es jedoch so vor, als ob Joshua ein Gebet gesprochen hätte, weil es der Talmud auch gegenüber Feinden so forderte.
Als sie in das Haus zurückkehrten, saß Sean schon auf der hölzernen Bank nahe am Feuer und betrachtete mit begehrlichem Blick die gefüllten Töpfe.
»Ah, du hast schon wieder Hunger«, stellte Henri fest. »Soll ich dir einmal davon berichten, wie oft ich in diesem Haus zur Strafe für Verfehlungen fasten musste? Wie wäre es, wenn ich auch dich ein wenig büßen ließe?«
»Aber ich habe doch gar nichts angestellt!«, rief Sean anklagend. Die Bäuerin konnte schon wieder lachen. Sie teilte mit der Kelle eine große Portion Gemüse und Hammelfleisch in den irdenen Essnapf, der vor dem Jungen stand. Sean hatte schon zu dem Löffel gegriffen und wollte sich heißhungrig über die verführerisch duftende Mahlzeit hermachen. Aber Henri warf ihm einen strafenden Blick zu. »Warte, bis wir gebetet haben! Auch damals in der Komturei regelte das Gebet einen beträchtlichen Teil unseres Tagesablaufes. Wir wollen doch hier an diesem Ort die alten Sitten einhalten.«
Schweigend nahmen sie die Mahlzeit ein. Aber nachdem die Frau auch den letzten Rest aus dem Topf ausgekratzt hatte, wandte sich Henri ihr zu. »Habt Ihr irgendeine Nachricht von Eurem Mann oder von einem der Verhafteten, der entkommen konnte?«
Die Frau des ehemaligen Stallmeisters, die ihren Namen mit Magdalene angegeben hatte, zögerte einen Atemzug lang. Sie blickte ihrem Retter in die Augen. Danach entschloss sie sich zu restlosem Vertrauen. »Alle drei bis vier Tage erscheint bei mir Bertrand Gaudin, der den Schergen entkommen konnte und sich seitdem im Dorf versteckt hält. Er berichtet mir über die Zustände in Paris und ob es eine Hoffnung für die verhafteten Templerbrüder gibt.«
Henri schluckte. Er wollte ihr den Bericht über Folterungen und den Tod der Großmeister auf dem Scheiterhaufen ersparen. »Ich schlage vor, dass wir hier warten, bis dieser Bertrand Gaudin auftaucht. Vielleicht überbringt er Nachrichten, die auch für uns wichtig sein könnten.«
Joshua nickte, um sein Einverständnis zu erklären. »Aber was machen wir mit dem Pferd des getöteten Ritters? Wir würden mit diesem edlen Tier überall auffallen.«
»Wir werden den kostbaren Ledersattel und das silberbeschlagene Zaumzeug unter dem Boden der halb verfallenen Stallung vergraben und mit Steinen bedecken«, erklärte Henri. »Das Pferd werden wir Bertrand Gaudin anbieten. Falls das Tier allerdings ein Brandmal seines Besitzers aufweist, könnte das für ihn und auch für uns zu gefährlich sein.«
»Und wenn doch?«, fragte Joshua. »Du willst doch dieses Tier nicht etwa töten?«
»Darüber muss ich noch nachdenken«, erwiderte Henri. »Wir müssen unseren Auftrag gegen alle Widerstände erfüllen.«
Sean begann plötzlich zu weinen. »Wir können das Pferd doch ein Stück auf unserem Weg mitnehmen und dann in die Freiheit entlassen. Wenn wir es davonjagen, wird es schon einen neuen Herrn finden, der es füttert und tränkt.«
Magdalene nahm den Jungen in den Arm. »Weine nicht! Wir werden schon eine Lösung finden.«
Joshua warf einen Blick auf die beiden. Wieder wurden seine Erinnerungen übermächtig. »Das Pferd wird nicht getötet«, sagte er mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete.
Henri betrachtete die drei Rebellen. Er fühlte einen Widerstand gegen seine Autorität. Darum traf er einige Anordnungen, denen sich die anderen unterzuordnen hatten. »Ich werde Magdalene in den Ställen helfen. Die Stallarbeit habe ich auch schon früher in der Komturei übernehmen müssen. Das war allerdings eine Strafe für Nachlässigkeiten in der Disziplin. Für Sean habe ich auch eine Aufgabe. Er wird nun endlich die Übungen im Schreiben und Lesen beginnen. Ich möchte täglich Fortschritte sehen. Für mich ist es eine Schande, einen Knappen zu haben, der nicht einmal einen einzigen Buchstaben beherrscht.«
Es war für die drei anderen deutlich erkennbar, dass Henri sich über sie geärgert hatte. Darum suchte Joshua nach einer Lösung des Konflikts. »Wie wäre es, wenn ich mich als Lehrer betätigen würde? Ohne Unterweisung hat noch niemand das Schreiben erlernt. Wenn Sean sich einverstanden erklärt, werde ich ihm diese gar nicht so schwere Kunst gerne beibringen.«
Henri brummte noch etwas von hebräischen Buchstaben und Gelehrsamkeit. Aber er rief sich selbst zur Ordnung und ermahnte sich zur Disziplin. Für das, was sie vorhatten, war Einigkeit eine Grundvoraussetzung.
Im Laufe der nächsten Tage fand jeder von ihnen zu Verständnis und Ausgeglichenheit zurück. Henri hatte mit Hilfe von Magdalene den Sattel und das Zaumzeug begraben. Während der Arbeit erzählte ihm die Frau des ehemaligen Stallmeisters, dass der getötete Ritter seit dem Verbot des Templerordens ihr Lehnsherr gewesen sei und übermäßige Hand- und Spanndienste verlangt habe. Ab und zu sei er aufgetaucht, um ihrem Mann Schläge anzudrohen, falls er seiner Arbeit nicht besser nachkomme. Ihr war aber gleich klar geworden, dass diese Besuche ihr gegolten hatten. Er hatte stets nach einer Möglichkeit gesucht, mit ihr allein zu sein. Einmal habe er ihren Mann unter einem Vorwand auf den Acker geschickt und ihr befohlen, für sein Pferd Heu aus der Scheune zu holen. Es sei ihr aber gelungen, sich auf dem obersten Boden zu verstecken. Mit seiner Rüstung konnte er die Leiter nicht emporklettern, und darum sei er voller Wut auf und davon geritten.
Henri gab diese Erzählung zu neuen Befürchtungen Anlass. »Meinst du nicht, dass seine Familie und die Bewohner des Gutshofes Nachforschungen anstellen werden?«
Magdalene zog eine Grimasse. Ihre Antwort klang verächtlich. »Das glaube ich kaum. Seine Frau ist vor Jahren bei Nacht und Nebel mit einem Grafen durchgegangen. Er hatte sie ständig malträtiert. Das hat mir die Köchin anvertraut, als ich einmal Eier in der Gutsküche ablieferte. Die vier Kinder, es ist ein Wunder, dass die Frau nicht im Kindbett starb, haben Zuflucht bei einer Tante gefunden. Er hatte sie bei jeder kleinen Verfehlung mit der Peitsche geschlagen. Niemand wird ihn vermissen. Im Gegenteil!«
Henri fühlte sich halbwegs beruhigt. Er hoffte, dass sie Recht behalten werde. Dennoch wartete er ungeduldig auf das Erscheinen des angekündigten Mannes Gaudin. Er zwang sich jedoch, den anderen gegenüber freundlich und nachsichtig zu sein. Als Sean mit einem Blatt Papier im Stall erschien, um ihm stolz seine Fortschritte vorzuzeigen, rang er sich ein Lob ab. »Du kannst ja schon sehr gut schreiben. Sicher kannst du auch lesen, was du da geschrieben hast.« Er konnte es. Henri hingegen vermochte kein einziges Wort zu entziffern. Das Gekrakel war für ihn unlesbar. Aber er enthielt sich jeder rügenden Bemerkung.
Endlich, nachdem schon vier Tage vergangen waren, hörte Henri leise Schritte, die sich dem Haus näherten. Bertrand Gaudin hatte die fremden Pferde vom Hügel aus gesehen. Er näherte sich vorsichtig und mied den Eingang zum Haus.
Magdalene ließ sich unter den niedrigen Türbalken sehen und winkte Bertrand herbei. »Komm ohne Furcht! Diese drei Reiter sind Freunde. Einer von ihnen war früher schon einmal in der Komturei. Diesmal kam er gerade zur rechten Zeit. Er hat mich vor dem brutalen Zugriff unseres Lehnsherrn gerettet. Jeder weiß ja, wie er mit Frauen umgeht.« Sie nötigte Bertrand, an dem brüchigen Holztisch Platz zu nehmen, und schenkte ihm randvoll ein Glas mit dem selbst gebrannten Kirschenschnaps ein. Nach deutlich gespieltem Zögern nahm Bertrand den Begrüßungstrunk an.
Magdalene bot ihren Gästen von dem alkoholischen Getränk lieber nichts an. Sie hatte einmal miterlebt, wie der Präceptor einen der Jungen beim Trinken dieses Schnapses erwischt hatte. Die Strafe, die das Kapitel aussprach, war hart und entwürdigend gewesen. Denn der Delinquent musste eine Woche lang auf dem Fußboden essen und durfte eine weitere Woche nur stehend und schweigend an den Mahlzeiten teilnehmen. Magdalene war sich nicht einmal sicher, ob der Präceptor den Jungen hinter der Scheune mit Weidenruten geschlagen hatte. Denn sie hatte den Burschen laut weinen hören.