Uthman wollte ihn mit einem Scherz ein wenig ärgern. »Eine Königin wäre für mich allemal eine neue Erfahrung gewesen. Aber leider hat Juliette uns erwischt und die Wachen gerufen.«
»Ach, so war das!«, rief Henri. »Eine eifersüchtige Frau hat unseren Plan vereitelt.«
»Sie hat mich, als mich die Wachen nicht erwischt hatten, sogar mit einem Messer bedroht. Aber ich habe sie, damit sie kein Unheil anrichten konnte, bewusstlos geschlagen. Vielleicht ist sie tot.«
»Was hast du mit dem armen verführten Ding gemacht?«, rief Joshua entsetzt. »Das hat sie nicht verdient.«
»Im menschlichen Leben geht nichts nach Verdienst«, behauptete Uthman. »Das beste Beispiel dafür ist König Philipp. Allah richtet, und wir sind nur seine Handlanger.«
»Aber da ihr gerade von dem sprecht, was einer verdient oder nicht, möchte ich auch etwas dazu sagen«, meldete sich Henri zu Wort. »Ich bin nämlich der Meinung, dass Uthman eine tüchtige Tracht Prügel verdient hat. Mit seinen Weibergeschichten hat er uns die ganze Misere eingebrockt.«
»Undankbar seid ihr beiden!«, rief Uthman mit gespielter Empörung. »Ohne mich wäret ihr doch überhaupt nicht bis zu Philipp vorgedrungen. Die Vorbereitung bei Juliette hat mich viel Mühe gekostet.«
»Wenn du jetzt nicht sogleich still bist, wird dich das nicht nur eine Tracht Prügel, sondern sogar das Leben kosten«, mahnte Henri. »Denn unten am Seineufer reitet eine Schwadron Soldaten. Es sieht ganz so aus, als ob sie auf der Suche nach uns wären. Wenn sie uns erwischen, dann wird nicht Allah uns richten, sondern die königlichen Richter, die mit uns sehr kurzen Prozess machen werden.«
Im Schritt ritten sie auf dem weichen Waldboden weiter, damit das Geräusch der Hufe nicht unterhalb des Hügels am Ufer gehört werden konnte. Die Patrouille hatte jedoch scheinbar die Suche aufgegeben. Sie benutzten eine Furt, um auf dem jenseitigen Ufer nach Paris zurückzukehren.
23
Nach vielen Tagen und Nächten, die sie nicht mehr zählten und halb schlafend im Sattel verbrachten, erreichten sie endlich Auxerre.
»Wie seht Ihr denn aus?«, rief Nicholas entsetzt, als sie abgemagert und bleich in seine Töpferei taumelten.
»Das berichten wir dir morgen«, versprach Henri. »Für heute brauchen wir nur ein Stück Brot zum Essen und ein Lager zum Schlafen.«
Nicholas machte keine langen Worte. Er begleitete sie in sein Haus und stellte keine weiteren Fragen. Bevor Henri todmüde ins Bett fiel, sah er sich noch um. »Sind Sean und Guinivevre hier?«
Nicholas beruhigte ihn. »Sie kamen wohlbehalten hier an, in bei weitem besseren Zustand als ihr. Der Earl hat sie auf seine Burg geholt und seiner Tochter verboten, mit Sean nach Beaumont zu seiner Mutter weiterzureiten.«
»Daran hat er Recht getan«, murmelte Uthman schlaftrunken. »Sean ist noch viel zu jung, um mit diesen Weibergeschichten anzufangen, die doch nur Unglück bringen.«
»Er weiß, wovon er redet«, erklärte Henri, ehe er in tiefen, traumlosen Schlaf fiel.
Sie schliefen zwei Tage und zwei Nächte so lange, bis Nicholas sie an den Schultern rüttelte. »Aufwachen, ihr Helden! Oder wollt ihr euch für immer von dieser Welt verabschieden? Ich habe dem Earl of Annan von eurer Ankunft und dem erbärmlichen Zustand berichtet. Er hat euch für heute Abend zu einem festlichen Mahl geladen.«
»Ich glaube, dass mein Magen nach der letzten Fastenzeit die Nahrungsaufnahme verweigern wird«, fürchtete Joshua.
»Da fürchte ich eher das Gegenteil«, hielt Uthman dagegen. »Wahrscheinlich werde ich wie ein Wolf über die erlesenen Köstlichkeiten herfallen.«
»Ich wünsche nicht, dass wir bei dem Earl durch ein schlechtes Benehmen auffallen«, mahnte Henri. »Nehmt euch zusammen und zeigt euch dankbar! Vor allem du, Uthman, lass dir nicht einfallen, Guinivevre zu belästigen!«
»Wo denkst du hin!«, rief Uthman empört. »Frauen spielen in meinem Leben keine Rolle mehr.«
Der Earl of Annan erwies sich als vollendeter Gastgeber. Er hatte den Park durch Pechfackeln erleuchten lassen, sodass die zahlreichen Skulpturen scheinbar zum Leben erwachten. Die Tafel hatte er mit schottischem Geschirr decken lassen, das mit bunten Jagdszenen bemalt war. In den Karaffen funkelte französischer Rotwein. Sie saßen an diesem ersten lauen Frühlingsabend unter einer Pergola, die sie vor dem Wind schützte, der von der Loire herüberwehte. Guinivevre hatte einen Platz im Halbschatten gewählt. Ihr Gesicht wirkte verschlossen und düster.
Der Earl erhob sein Glas. »Ich trinke auf Eure gesunde Rückkehr, meine Herren. Sicher werdet Ihr nun in Eure Heimat zurückkehren wollen.« Er bemerkte wohl nicht, dass nach diesen Worten eine vollkommene Stille entstanden war. Denn er hatte begonnen, über die politische Situation in Frankreich und vor allem über die Schwierigkeiten in jenem Gebiet zu dozieren, das der englischen Krone unterstand.
Heimat, dachten seine drei Gäste, wo gab es die für sie?
Joshua kam in den Sinn, dass es ihm erging wie dem ewigen Wanderer Ahasver, der ein Jude war wie er. Ahasver aber war schuldig geworden, weil er Jesus von seiner Schwelle gejagt hatte, als dieser ihn auf dem Weg nach Golgatha gebeten hatte, ob er mit seinem schweren Kreuz vor seinem Hause ein wenig rasten dürfe. Geh weiter zu deinem Herrn!, hatte Ahasver gehöhnt. Jesus aber hatte geantwortet: Ich werde heimkehren in das Reich meines Vaters, du aber wirst ewig wandern müssen. Obwohl schuldlos, hatte auch Joshua dieses Schicksal getroffen. So deuteten die Christen die Heimatlosigkeit seines Volkes, obwohl doch alleine ihre Gesetze daran schuld waren.
Uthman dachte daran, dass es ihm in Frankreich verwehrt blieb, sich als gläubiger Moslem zu erkennen zu geben, dass er selbst in Andalusien in der ehemaligen Moschee von Cordoba, welche die Christen in eine Kirche umgebaut hatten, zwar leise beten, aber nicht mit dem Gesicht gen Mekka laut das islamische Glaubensbekenntnis ausrufen durfte: Ashadu an la ilah illa Allah, ashadu anaa Muhammad rasul Allah – Ich bezeuge, dass es keinen Gott außer Allah gibt; ich bezeuge, dass Muhammad der Gesandte Allahs ist.
Henri dachte daran, dass es für ihn nur eine einzige Heimat gegeben hatte, die Gemeinschaft im Orden der Templer. Die aber hatte man ihm mit Gewalt genommen. Wo könnte er sie jemals wieder finden? Wo könnte es für ihn eine andere geben?
Der Earl, der sich ausführlich mit dem Krieg in Flandern beschäftigt hatte, bemerkte die plötzliche Stille seiner Gäste. Auch Guinivevre hatte beharrlich geschwiegen. Er unterbrach seinen Redefluss und fasste seiner Tochter unter das Kinn, hob ihren gesenkten Kopf, um ihr in die Augen zu schauen. »Meine über alles geliebte Tochter werde ich nach Schottland auf das Landgut meiner Schwester schicken, damit sich Lady Campbell um die Erziehung dieses jungen Mädchens kümmert. Und Ihr, meine Herren, welche Pläne werdet Ihr verfolgen?«
Sie konnten ihm wohl kaum die Wahrheit sagen, dass ihr einziger Plan war, König Philipp und den willfährigen Papst vom Leben zum Tod zu befördern.
Diesmal fand Uthman als Erster zu einer Antwort. »Ich habe die Absicht, nach Cordoba zurückzukehren, um mich dort den Studien zu widmen. Es ist mein brennender Wunsch, ein Medicus zu werden, der kranken Menschen Hilfe bringen kann. Ich werde Avicenna nacheifern, dem bedeutendsten Arzt und einem der größten Philosophen unserer Religion, vor allem aber auch Averroes, den wir Ibn Ruschd nennen, dessen Ruhm als Philosoph sein medizinisches Schaffen noch übertraf.« Uthman hätte sich noch länger über die bewundernswerten Kenntnisse und berühmten medizinischen Bücher arabischer Wissenschaftler ausgelassen, wenn sich nicht Joshua zu Wort gemeldet hätte.
»Du solltest aber auch Maimonides nicht unerwähnt lassen, den größten Philosophen. Obwohl er Jude war, wirkte er als Arzt der aijubidischen Sultane, und er verfasste seine medizinischen Schriften in eurer Sprache. Wenn du nach Cordoba zurückkehrst, musst du unbedingt sein bemerkenswertes Buch der medizinischen Sprüche lesen. Auch ich werde übrigens meine Studien fortsetzen und mich wieder der Philosophie zuwenden, wenn ich an irgendeinem Ort ungestört arbeiten kann.«