Der Earl bemerkte, dass sich das Gespräch einem Sachgebiet zuwandte, von dem er nichts verstand. »Und Ihr, mein lieber Landsmann Henri de Roslin, welche Pläne werdet Ihr verfolgen?«
Henri, der bis dahin aufmerksam den Ausführungen seiner Gefährten gelauscht hatte, setzte sich aufrecht hin. »Mein einziges Ziel ist es, die Werte, die einst unseren Orden geprägt hatten, wieder zum Leben zu erwecken.«
»Denkt Ihr an einen neuen Kreuzzug?«, fragte der Earl.
Henri musste wider Willen lächeln. »Aber nein! Diese Zeiten sind wohl endgültig vorüber. Ich habe, wenn man es so ausdrücken will, an einen Kreuzzug gedacht, der nicht Andersgläubige ausrotten und bekämpfen will, sondern deren Werte sucht und anerkennt. Schließlich glauben wir alle an denselben Gott und verehren die gleichen Propheten.«
Der Earl wirkte missgestimmt. »Mir scheint, mein lieber Freund, dass Ihr die Regeln und Gelübde Eures Ordens in Frage stellt. Wo bleibt da der Kampfgeist der Ritter, mit dem sie sich in den Kreuzzügen bis zu ihrem letzten Blutstropfen ausgezeichnet haben? Wo bleibt das Bekenntnis zum Christentum?«
Henri fühlte zwar nicht das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen, wohl aber eine Erklärung zu liefern. »Nichts von den Tugenden, die unseren Orden auszeichneten, ist verloren gegangen. Wir alle, die ehemaligen Tempelbrüder, werden diese Werte weitertragen, nur in einem anderen Gewand.«
Joshua sah ihn an und nickte. Auch Uthman hatte ihn verstanden. Nur der Earl zuckte verständnislos mit den Schultern und erhob sich. »Es ist spät geworden, und ich wünsche Euch eine ungestörte Reise dorthin, wo Ihr vielleicht doch eine Heimat finden könnt.«
Seine drei Gäste glaubten, einen Tadel herauszuhören. Sie verbeugten sich tief vor ihrem Gastgeber und dankten für die genossenen Köstlichkeiten und den anregenden Abend. Der Stallbursche führte ihre Pferde gesattelt vor. Guinivevre, die den ganzen Abend geschwiegen hatte, trat nahe heran und streichelte Henris Araberhengst. Henri sah Tränen in ihren Augen. Er beugte sich hinab und küsste ihre dargereichte Hand.
»Ich werde meinen Knappen von Euch grüßen«, versprach er laut im Beisein des Earl of Annan. »Er hat Euch nicht vergessen.«
Die drei Gefährten ritten schweigend in die Dunkelheit hinaus. Es gab nichts mehr zu sagen.
EPILOG
Drei Tage später erreichten sie die Bastide von Beaumont, die ihnen nun doch das Gefühl vermittelte, nach Hause gekommen zu sein. Sean, der das Geräusch nahender Pferde schon von weitem gehört hatte, lief ihnen entgegen und stürzte sich in Henris Arme, als begrüße er seinen heimgekehrten Vater. Er nahm Henri bei der Hand und führte ihn die hölzerne Treppe aufwärts, wo Seans Mutter ihn auf dem Balkon erwartete. Es bedurfte zwischen ihnen keiner Worte. Ihren Augen sah er die tiefe Dankbarkeit an, dass er ihren Sohn wohlbehalten wieder in ihre Obhut zurückgeführt hatte.
Aber dann, bei einem Mahl, das zwar nicht so reichhaltig wie in der Burg an der Loire, aber mindestens ebenso wohlschmeckend war, hielt Henri eine kleine Rede. »Ich danke euch, meine treuen Gefährten, dass ihr mir durch alle Gefahren bis hierhin gefolgt seid, wo Lady of Ardchatten uns eine verlorene Heimat ersetzt. Heute ist der Tag gekommen, an dem wir uns trennen müssen. Aber wir werden uns wieder sehen, denn auf uns warten weitere Pflichten, wie ihr wisst. In zwei Wochen erwarte ich euch in der alten Commanderie des Ordens von La Reole. Ihr werdet die ehemalige Ordenskapelle und den Wehrturm trotz ihres verfallenen Zustandes leicht erkennen. Dort gibt es für uns eine Arbeit, die von immenser Wichtigkeit ist. Darum bitte ich euch, bewahrt den Treffpunkt La Reole als unser Geheimnis. Reicht mir als Versprechen eure Hände!«
Er gab Lady of Ardchatten einen Wink, dass auch sie gemeint sei, und sie legte ihre blassen schmalen Hände auf den hölzernen Tisch.
Sean breitete seine noch immer knabenhaften Hände darüber. Henri gab Joshua ein Zeichen, dass er als Nächster an der Reihe sei. Obwohl Joshua im Freien genächtigt und einen weiten Ritt überstanden hatte, zeigten seine Hände immer noch das Aussehen eines Gelehrten.
Uthman wartete Henris Aufforderung nicht ab. Trotz seiner Studien in Cordoba waren seine Hände die eines Kämpfers geblieben, breit und zupackend.
Als Letzter legte Henri seine Hände über die der anderen. Man hätte nicht erkennen können, ob diese Hände fähig waren, Waffen zu führen oder doch eher in Büchern zu blättern.
Der Hügel der aufeinander gelegten Hände wirkte wie ein fester Fels, den niemand zum Einsturz bringen konnte. Auch ohne ein lautes Gelöbnis wussten sie, dass nichts und niemand sie jemals voneinander trennen konnte.
Historische Nachbemerkung
Die Zeit, in der dieser Roman spielt – der Beginn des 14. Jahrhunderts –, ist eine Epoche, in der viele Weichen gestellt werden für die Welt, wie wir sie heute kennen. Allmählich bilden sich die Nationalstaaten heraus, das Bürgertum erstarkt, Kaiser, König und Papst streiten noch um die Vorherrschaft in ihren Ländern.
Das gilt besonders für Frankreich. Noch gibt es mehrere unabhängige Königsherrschaften und Fürstentümer, und die Engländer halten einen Teil Frankreichs in ihrer Gewalt, den erst Jeanne d’Arc mehr als 100 Jahre später befreien wird. Philipp IV. (1285-1314), genannt der Schöne, beginnt, das Reich zentralistisch auszurichten und alle Macht auf sich zu konzentrieren. Um seine Bewohner hinter sich zu bringen, werden 1302 die Generalstände berufen, ein Gremium, in dem neben Geistlichkeit und Adel zum ersten Mal auch das Bürgertum vertreten ist. Gleichzeitig vergrößert Philipp aggressiv sein Territorium, er erobert Teile des Königreichs Burgund (unter anderem das Gebiet um Lyon und die Provence).
Philipps ehrgeizige Politik ist teuer – und dem König fehlt es an Geld. Sein Versuch, den bisher unabhängigen Klerus zu besteuern, führt zu einem Streit mit dem Papst Bonifaz VIII. (1294-1303). Philipp ist in seinen Mitteln nicht wählerisch: Nach dem Tod von Bonifaz kommt – nach einem nur wenige Monate dauernden Zwischenspiel von Benedikt XI. – bei einer von ihm bestimmten Wahl der ihm angenehme Kandidat Clemens V. auf den Papstthron. 1309 verlegt Clemens dann seine Residenz nach Avignon. Dort, das hofft Philipp, kann er die Päpste besser kontrollieren und lenken.
Unter Philipps ersten Opfern sind die Juden Frankreichs. Philipp belegt das Nichttragen des Judenabzeichens mit hohen Geldstrafen, verbietet den Juden das Wohnen außerhalb der Städte, schließlich, am 22. Juli 1306, werden alle Juden im Herrschaftsbereich des Königs verhaftet und des Landes verwiesen. Dazu treibt ihn nicht etwa religiöser Fanatismus, sondern die Gier nach Geld: Die Habe der Juden wird vom französischen König konfisziert, Außenstände bei Christen werden zugunsten des königlichen Schatzes eingetrieben. Ein Teil der vertriebenen Juden zieht nach Lothringen, Burgund und in die Dauphiné, während die Juden Südfrankreichs in das Gebiet des Königs von Mallorca und in das spanische Aragon auswandern. Im Jahr 1315 dürfen die Juden dann wieder nach Frankreich zurückkehren, allerdings gegen die Zahlung hoher Summen. Die Niederlassung auf Gebieten des Königs wird ihnen ausdrücklich erlaubt. Sie dürfen auch wieder Handel und Gewerbe treiben; Pfänder können mit bis zu 43 Prozent jährlichen Zinsen belegt werden. Ihre bei der Vertreibung aufgegebenen Synagogen und Friedhöfe können die Rückkehrer zurückkaufen, außerdem dürfen sie die Herausgabe der beschlagnahmten Bücher – mit Ausnahme des Talmuds – verlangen. Wie schon vor der Vertreibung müssen die Juden das ringförmige Judenabzeichen tragen. Es vergehen nur zwei Jahre bis zu erneuten Judenpogromen in Chinon, die zweite Vertreibung folgt im Jahr 1322.