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»Politische Entscheidungen wie die Erweiterung der Europäischen Union sind eine wunderbare Sache. Ohne Frage. Aber seit die EU wächst wie ein gutartiges Geschwür, ist die Diskrepanz zwischen dem, was in Brüssel oder Rom entschieden wird, und dem, was wir von der Exekutive draußen auf der Straße mitmachen müssen, zu einem kaum mehr zu bewältigenden Problem mutiert. Zehntausende Flüchtlinge strömen aus Nordafrika und vom Balkan nach Italien. Sie wissen selbst, wie dramatisch die Situation in den Auffanglagern ist! Ein nicht unerheblicher Prozentsatz jener, die da als Flüchtlinge kommen, sind kriminelle Elemente. Die kommen, weil sie hier in wenigen Monaten durch Diebstahl und andere Delikte nicht nur das Geld für die Passage auf den Schiffen professioneller Menschenschmuggler zurückzahlen können. Nein, die verdienen durch kriminelle Aktivitäten hier so viel Geld, wie sie in ihren Heimatländern im ganzen Leben nicht in die Hände kriegen würden. Angst vor dem Gefängnis? Pah, die lachen sich schief. Ein italienisches Gefängnis ist für die ein Drei-Sterne-Hotel mit Vollpension! Angst vor Abschiebung? Nein, haben sie nicht. Sie kommen einfach wieder. Bulgarische Kinderbanden machen die Bahnhöfe Italiens unsicher. Albanische Kinderbanden sind die Straßendealer und Kuriere internationaler Heroin- und Kokaingangs. Die Kids sind manchmal erst zehn Jahre alt! Nehmen wir eins von ihnen fest, sind sie strafunmündig und dürfen nicht einmal verhört werden! Abgeschoben werden können sie auch nicht. Ihre Eltern sagen ganz einfach, dass es Ihnen Leid tut, was ihre Zöglinge da anstellen. Zwei Wochen später sind die Jungen und Mädchen wieder auf der Straße – wo sie hingeschickt werden! So wie dieser angeblich marokkanische Junge mit dem geradezu lächerlichen Namen Ibrahim Moulay Idriss! Das ich nicht lache!«

»Was ist mit diesem Namen?«, unterbrach Alberto Pellini ihn. Commissario Franco Manzoni lächelte süffisant. »Es ist der Name einer marokkanischen Stadt, die Grabstätte von Idriss I. – also so was wie eine Pilgerstätte! Diese Leute erlauben sich, uns zu verarschen. Sie schicken uns ein Kind, einen Killer mit dem Namen eines vor Hunderten von Jahren verstorbenen marokkanischen Heiligen. Allein das, Herr Staatssekretär, diese maßlose Provokation wäre früher für mich Grund genug gewesen, mich wie ein Spürhund auf die Fährte dieser Leute zu heften. Aber das werde ich wohl nicht mehr tun. Ich denke, in Anbetracht der Tatsache, dass übergeordnete staatliche Interessen, wie es so schön heißt, in diesem Falle jegliche polizeiliche Ermittlungen unterbinden, werde ich wohl die nächsten sechs Monate bis zu meiner Pension fürchterlich krank werden. Ja, ich werde krankfeiern. Das heißt, eigentlich bin ich es schon.«

»Finden Sie nicht, dass Sie ein bisschen pathetisch sind«, versuchte Staatssekretär Pellini die extrem angespannte Stimmung ein wenig zu entkrampfen. Doch mit seiner Bemerkung erreichte er genau das Gegenteil. Der Commissario wirbelte herum, ging auf den Staatssekretär zu, schüttelte den Kopf und lachte hämisch.

»Wer diesen Jungen geschickt hat oder ihn vielleicht sogar durch Erpressung gezwungen hat, die beiden Sprengstoffpäckchen anzubringen, war ein Profi – ein eiskalter, skrupelloser Profi. Und wenn mich nicht alles täuscht, wenn mich nicht meine zwanzig Jahre Erfahrung in der Terroristenfahndung täuschen, dann waren das Terroristen. Arabische Terroristen! Denn über eins sind wir uns ja wohl alle im Klaren: Die Täter von Bayern und jene vom Palazzo Pitti sind ein und dieselben Leute. Da wette ich meine Pension drauf! Ich weiß nur noch nicht, wie diese Dinge wirklich zusammenpassen. Aber ich will es jetzt auch nicht mehr wissen.«

Staatssekretär Alberto Pellini schluckte betroffen. Er musste dieses in Grundsatzdiskussionen ausartende Gespräch kraft seiner Autorität abrupt beenden. Und er wollte es auch beenden, denn ihm war klar geworden, dass Franco Manzoni Recht hatte. Der Commissario lag mit seiner Einschätzung, dass arabische Terroristen in die Vorfälle verwickelt waren, genau richtig. Im Innenministerium sah man das ganz genauso, und daher hatte sich der italienische Geheimdienst längst mit dem deutschen Bundesnachrichtendienst in Verbindung gesetzt.

Bedeutungsvoll zog Pellini ein Dokument aus seinem Aktenkoffer hervor. »Wie auch immer, Commissario Manzoni. Der Innenminister hat befunden, dass der zwölfjährige Ibrahim Moulay Idriss in Abstimmung mit dem Botschafter des Königreichs Marokko wegen Strafunmündigkeit und verminderter Schuldfähigkeit abgeschoben wird. Man wird ihn heute gegen sechzehn Uhr einem Bevollmächtigten der Botschaft übergeben. Der Junge darf bis dahin weder polizeilich noch staatsanwaltlich befragt werden.«

Mit sehr leiser Stimme wandte Alberto Pellini sich zu Franco Manzoni. »Ich weiß, dass Sie Recht haben, Franco. Ich weiß es! Aber das ist nun einmal das italienische Recht, das Gesetz. Es ist ein Kind. Wir handeln nur nach Recht und Gesetz.«

Gegen fünfzehn Uhr verließ Commissario Franco Manzoni sein Büro. Als er über den Flur zum Treppenaufgang des Polizeipräsidiums ging, trug er keine Dienstwaffe mehr. Er hatte sie seinem Vorgesetzten wortlos auf den Tisch gelegt und sich krank gemeldet.

»Nein«, murmelte er am Haupteingang vor sich hin, »hier wird nicht nach Recht gehandelt – nur nach dem Gesetz. Recht und Gesetz sind zwei verschiedene Paar Schuhe an den Füßen einer den aktuellen Geschehnissen hinterherhinkenden Nation.«

Kaum, dass er den Innenhof des Polizeipräsidiums verlassen hatte, holte er sein Handy hervor und rief eine gespeicherte Nummer an.

»Du hast knapp eine Stunde Zeit«, flüsterte er, »um vier Uhr wird der Junge an die marokkanische Botschaft übergeben. Pass auf dich auf! Noch was, Carlo: ich verlasse mich darauf, dass du mich aus dieser ganzen Sache raushältst.«

*

Freiherr Georg Ludwig von Hohenstein hörte dem für die Haftprüfung zuständigen Richter zwar zu, aber seine Gedanken waren woanders. Wie in Trance hörte er die Stimme seines Rechtsanwaltes.

»Natürlich ist meinem Mandanten bewusst, dass er weder den Schuldausschließungsgrund der putativen Notwehr noch den der Erwiderung auf der Stelle geltend machen kann. Mein Mandant stand zur Tatzeit unter Schock. Er war nach den brutalen Geschehnissen mit seiner Frau nicht zurechnungsfähig. Er ist bereit, die Verantwortung für seine Tat zu tragen. Da Sie sein an Eides Statt niedergelegtes Geständnis haben und bei meinem Mandaten fraglos weder die Haftgründe der Flucht- noch der Verdunkelungsgefahr bestehen, stellen wir hiermit den Antrag, meinen Mandanten gegen Kaution aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Er ist ein angesehener, rechtschaffener Mann, Familienvater und seit Jahrzehnten Mitglied dieser Stadtgemeinde. Selbstredend wäre mein Mandant auch bereit, seinen Reisepass abzugeben und sich bis zur Gerichtsverhandlung regelmäßig bei der nächsten Polizeidienststelle zu melden.«

Bei dem Stichwort Reisepass schreckte Freiherr von Hohenstein aus seinen Gedanken hoch. Das wäre schlecht, wenn ich den Reisepass abgeben müsste, schoss es ihm durch den Kopf. Es wird zwar kein allzu großes Problem sein, sich gefälschte Dokumente zu besorgen, sein Geschäftspartner Dimitri in Moskau könnte da sicherlich behilflich sein. Es würde jedoch seine Pläne fraglos sehr erschweren, wenn er sich regelmäßig bei einer Polizeidienststelle melden müsste. Nein, das wäre alles andere als gut. Es war absehbar, dass er längere Reisen unternehmen müsste. Vielleicht in den Nahen Osten, vielleicht nach Nordafrika. Dafür musste er flexibel und mobil sein.

Gespannt starrte er den Richter an. Er kannte Friedhelm Ringmann gut. Seit Jahren spielten sie zusammen Golf und waren beide Mitglieder im Lions Club. Friedhelm schaute ihn an. Ihm war anzusehen, dass ihm die Situation peinlich war. Freiherr von Hohenstein lächelte ihn kurz an und war nicht wirklich überrascht, wie Friedhelm Ringmann, Richter am Landesgericht Sigmaringen, schließlich entschied.