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»In Anbetracht der Tatsache, dass Freiherr von Hohenstein sein Geständnis unter Eid bestätigt hat und seitens der Staatsanwaltschaft keine Anhaltspunkte dafür gesehen werden, dass er sich dem Verfahren durch Flucht entziehen wird, ordne ich hiermit an, dass die Untersuchungshaft des Freiherrn Georg Ludwig von Hohenstein gegen Zahlung einer Kaution von einhunderttausend Euro mit sofortiger Wirkung aufgehoben wird.«

Georg von Hohenstein triumphierte innerlich. Nun stand seinem Plan nichts mehr im Wege. Er war auf freiem Fuß. Klara war in der psychiatrischen Privatklinik eines gemeinsamen Freundes gut aufgehoben. Jetzt galt es zunächst, über Freunde bei den Sicherheitsbehörden mehr Details über die Täter und ihre eventuellen Hintermänner in Erfahrung zu bringen. Das würde kein Problem sein. Sein Anwalt hatte Akteneinsicht, auch in die Ermittlungsakten der Kriminalpolizei. Alles Weitere würde er über einen Studienkollegen, der beim bayrischen Innenministerium in leitender Position war, erfahren. Er wollte Rache, Genugtuung! Seit er erfahren hatte, dass der von ihm erschossene Fahrer des BMW keine Narbe am Bauch hatte, folglich nicht der Vergewaltiger gewesen sein konnte, trieb ihn nur noch ein Gedanke an: den Schmächtigen zu finden und ihn zu töten. Georg Ludwig von Hohenstein wunderte sich noch immer darüber, dass es nicht der schmächtige Araber gewesen war, dem er laut Polizeibericht in die Schläfe geschossen hatte. Er war sich absolut sicher gewesen, in dem Fahrer des Wagens den Vergewaltiger seiner Frau erkannt zu haben. Ganz egal, dachte er jetzt. Einer ist tot. Er hat es verdient. Einer ist verwundet. Den hatte die Kugel eines Polizisten erwischt. Und den, der Klara vergewaltigt und mich gezwungen hat, dabei zuzuschauen, den Kleinen mit der Narbe auf dem Bauch, den schnappe ich mir …

Gegen Viertel nach drei wurde Freiherr Georg Ludwig von Hohenstein aus der Untersuchungshaft entlassen und stieg in den Wagen seines Anwalts.

*

Nahezu zeitgleich betrat der Kriminalbeamte Carlo Frattini vom Betrugsdezernat das Zimmer 323 im dritten Stock des Polizeipräsidiums von Florenz. Seine Kollegin Francesca saß auf dem Stuhl in der Ecke des Büros, unmittelbar neben dem vergitterten Fenster. Der kleine Araber hockte zusammengekauert in einer Ecke und starrte ihn an. In dem Trainingsanzug, den man ihm von der marokkanischen Botschaft gebracht hatte, sah er älter aus.

»Ciao, Francesca«, grüßte Carlo. »Der kleine Killer wird gleich abgeholt. Ich dachte, er will vielleicht noch einmal auf die Toilette, bevor er fährt. Ist eine lange Fahrt von Florenz nach Rom. So wie ich die Araber kenne, wird er kaum mit dir auf die Toilette gehen wollen.«

Die Kriminalbeamtin lächelte ihn an. »Was machst du denn hier? Von mir aus, frag ihn, wenn es dir gelingt. Zu mir sagt er keinen Pieps. Aber du kannst ja perfekt Arabisch. Vielleicht muss er wirklich mal. Aber pass auf, dass er nicht aus dem Fenster springt.«

Der Junge starrte den hünenhaften Mann mit der Waffe im Schulterholster ängstlich an.

»Komm mit! Aber versuch nicht abzuhauen. Du kommst hier nicht raus. Außerdem holen dich deine Landsleute gleich ab. Also komm.«

Der arabische Junge wunderte sich, auf Arabisch angesprochen zu werden. Verunsichert lächelnd ging er langsam auf Carlo Frattini zu. Entsetzt schüttelte er den Kopf, als der Kriminalbeamte ihm Handschellen anlegte.

»Dass machen wir hier in Italien immer so mit Mördern«, zischte Carlo Frattini wütend und schob den Jungen vor sich her aus dem Zimmer.

Zwanzig Schritte den Flur entlang nach rechts lag die Herrentoilette. Der Flur war menschenleer. Carlo Frattini öffnete die Tür. Im Vorraum war niemand. Im hinteren Raum mit den vier Toilettenkabinen schien ebenfalls niemand zu sein. Er bückte sich und schaute unter den Türen hindurch. Nein, keiner da! Sein Blick ging zu dem kleinen Fenster an der Stirnwand. Es war nicht vergittert, weil es nur in den engen Luftschacht führte. Hier konnte kein Festgenommener fliehen. Jedenfalls kein Erwachsener. Der Junge starrte ihn an. Angst lag in seinem Blick. Blitzschnell griff Carlo Frattini mit der rechten Hand nach dem Kopf des Jungen, riss ihn herum, zwang ihn mit seinem Körpergewicht auf den Boden, presste seine Hand auf den Mund des sich wild wehrenden Kindes, zerrte mit der anderen Hand eine Rolle Klebeband aus seiner Jackentasche und verband ihm mit wenigen Handgriffen den Mund. Er spürte die große Angst des Jungen unter sich.

»Hör auf zu strampeln«, fuhr er ihn an und drehte ihn auf den Rücken.

Der Junge riss die Augen weit auf. Er hatte Todesangst. Der Kriminalbeamte huschte zur Eingangstür, verriegelte sie von innen und schloss die Zwischentür hinter sich. Der Junge blieb wie paralysiert liegen. Langsam schritt Carlo Frattini an ihm vorbei zum Fenster, öffnete es, packte das schmächtige Kind mit beiden Händen an der Hüfte, wuchtete es mühelos vom Boden direkt an das Fenster und legte den in Handschellen gefesselten kleinen Körper mit dem Bauch auf das Fenstersims, so dass der Kopf des Kindes aus dem Fenster im dritten Stock hinab in den Lüftungsschacht baumelte. Der Junge hörte schlagartig auf zu zappeln. Die Angst, in den engen Schacht hinabzustürzen, lähmte ihn. Carlo Frattini stöhnte unter der Anstrengung und Aufregung.

»Du hast meinen Vater getötet. Ihr habt meinen Vater getötet! Er war ein gutmütiger Mann, ein kranker alter Museumswärter, der es verdient hätte, friedlich zu sterben und nicht in die Luft gesprengt zu werden …«

Der Junge schluchzte. Carlo Frattini empfand kein Mitleid. Stattdessen zuckte er kurz mit beiden Händen, als wolle er das Kind hinabstoßen. Doch er zog den Jungen wieder zurück, ließ ihn auf den Boden gleiten und drehte ihn auf den Rücken. Er erschrak ein wenig, als er die Todesangst in den Augen des Kindes sah.

»In meiner Heimat Sardinien gilt unter sardischen Hirten seit jeher das Gesetz der Vendetta: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Tötest du meinen Vater, töte ich dich oder deinen Vater – oder deine Brüder. Ich bin Polizist. Kein besonders guter, nein. Ich habe schon gestohlen, und ich habe schon betrogen. Sarden sind arm. Sie waren es immer. Auch ich war arm, ein Hirte, als Kind so dünn und so unschuldig, wie du es einmal warst. Arm geboren – und arm wäre ich krepiert, aber ich wollte nicht arm sterben. Deswegen habe ich Dinge getan, die ein Polizist nicht tut. Das bereue ich nicht. Aber mein Vater hat mich dafür verachtet. Das ändert jedoch nichts daran, dass ich heute ein sardischer bandito per causa di honore sein werde! Ich töte heute als Bandit mit ehrenwerten Gründen, als Sohn meines ehrenwerten alten sardischen Vaters Leonardo Frattini. Er mochte mich nicht sonderlich, aber er war mein Vater. Und du weißt genau, was das für mich bedeutet, denn ihr Araber kennt dieses Denken. Die Ehre der Familie steht über allen irdischen Dingen und Gesetzen. Also töte ich dich – oder den, der dich beauftragt hat, den Sprengstoff anzubringen …«

Der Junge verharrte völlig regungslos. Seine Augen signalisierten, dass er verstanden hatte.

»Ich werde dir jetzt ein Blatt Papier und einen Bleistift geben. Du schreibst mir deinen Namen auf, den richtigen Namen, den Namen deines Vaters, deiner Mutter und deiner Brüder! Hast du verstanden? Ich will die Adresse deiner Familie – und ich will den Namen und alles, was du sonst noch weißt von den Männern, die dich nach Italien geschickt haben. Machst du es, werde ich das Gesetz der Vendetta an den wahren Schuldigen vollstrecken. Ich werde schweigen, wenn du mir alles aufschreibst. Denn auch das gilt auf Sardinien: das Gesetz der Omertá – des ewigen Schweigens. Niemandem werde ich sagen, woher ich meine Informationen habe. Du wirst frei sein, wenn du tust, was ich verlange. Wir auf Sardinien verschonen Kinder und Frauen, aber nur, wenn sie unschuldig sind. Beweise, dass du unschuldig bist. Führe mich zu den Schuldigen, zu den Mördern meines Vaters.«