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4. Kapitel

Wien tower, ambulance 101 for start-up and clearance«, nuschelte Flugkapitän Richard Kristoffs in sein Mikrofon. Die Antwort des Lotsen aus dem Kontrollturm am Flughafen in Wien-Schwechat kam schnell.

»Start-up is approved, please confirm destination«, krächzte die Stimme des Lotsen über den Äther.

»Heading for Rheintal, Switzerland«, antwortete Richard Kristoffs und rückte seine Sonnenbrille zurecht. Wieder war der Fluglotse erstaunlich schnell.

»Ambulance 101, you are cleared for take-off runway 29.«

Vorsichtig schob Richard Kristoffs die beiden Gashebel nach vorne, überprüfte mit routiniertem Blick die Triebwerksdaten, löste die Bremsen und gab vollen Schub.

»V1 – rotate, V2, positiv rate – gear up –!«, murmelte er hinüber zu seinem Copiloten. Steil zog der Learjet in die Wolken, dem Himmel entgegen. Mit dem Ende des Steigflugs löste der Pilot seinen Sicherheitsgurt und atmete tief durch. Glück gehabt, verdammtes Glück gehabt, ging es ihm durch den Kopf. Vor knapp einer Stunde hatte er noch im Autobahnstau auf der Südtangente gestanden und gedacht, dass ihn diese Situation seinen Pilotenjob kosten würde. Er wusste, dass er sich während einer Flugbereitschaft immer nur im näheren Umfeld von Wien bewegen durfte und faktisch innerhalb einer Stunde nach Eingang eines Notrufs startklar sein musste. Die Verkehrsverhältnisse in Wien hatten sich in den Jahren nach der Osterweiterung der EU jedoch so dramatisch verschlechtert, dass gewisse Ausfallstraßen und Autobahnen regelmäßig unter dem Blechlawinen erstickten. Die Südtangente Richtung Graz war am schlimmsten. Am frühen Morgen strömten Heerscharen von Pendlern in die Stadt, am Nachmittag wälzten sich die Blechlawinen wieder stadtauswärts. Ausgerechnet diese Strecke musste er nehmen, um seine Töchter zum Reitunterricht zu fahren. Es waren kaum mehr als vierzig Kilometer von seiner Wohnung im fünften Bezirk zu dem Reitstall, aber die Autobahnbauarbeiten verursachten rund um die Uhr Staus. Heute hatte er sich über dieses Wissen hinweggesetzt. Schon nach knapp einer halben Stunde Fahrt hatte das Handy geklingelt. Er wurde zum Flughafen beordert: ein Notfall! Kurz entschlossen war er einfach auf dem Standstreifen zur nächsten Ausfahrt an dem Stau vorbeigefahren. Das war zwar verboten, aber letztendlich war es gut gegangen. Er hatte die Ausfahrt erreicht und war auf der Gegenfahrbahn zurück Richtung Wiener Flughafen gerast. Die Kollegen hatten bereits alle Unterlagen vorbereitet. Das Briefing für die Crew und die Notärztin war kurz gewesen. Jetzt saß er im Cockpit, in knapp einer Stunde würden sie in Rheintal landen. Joachim, sein Copilot, blätterte in den Flugunterlagen. Hinten im Learjet hörte er die Ärztin mit dem Sanitäter sprechen.

»Um was geht es eigentlich genau?«, fragte Richard Kristoffs den Copiloten.

»Ist ein Diplomat, dem bei einem Unfall ein Metallstab in den Bauch gedrungen ist. Allerdings schon vor ein paar Tagen«, antwortete dieser. »Soweit ich es aus den Unterlagen ersehen konnte, möchte er lieber in seinem Heimatland im Krankenhaus behandelt werden. Nichts Ungewöhnliches also, reine Routine.«

Das sah Dr. Ulrike Blagus anders. Die Ambulanzärztin wirkte sehr beunruhigt, als sie knapp eine Stunde später auf dem Flugfeld von Rheintal im Dreiländereck Deutschland-Österreich-Schweiz das Cockpit betrat. Der Patient, nach Krankenunterlagen und Aussehen offensichtlich ein Araber, war vor wenigen Minuten auf einer Trage aus dem wartenden Krankenwagen in den Learjet umgelagert worden. Weil sie gesehen hatte, dass die Wunde unterhalb der rechten Rippen unter dem Verband blutete, hatte sie den Patienten untersucht – und war erschrocken.

»Das ist keine Unfallverletzung«, flüsterte sie Flugkapitän Richard Kristoffs nun zu, »das ist eine Schusswunde! Ist zwar nur ein Durchschuss, aber es ist keine Unfallverletzung!«

»Sind Sie sich sicher?«, fragte Richard Kristoffs leise und schaute die Ärztin erschrocken an. Er kannte sie von früheren Flügen. »Kennen Sie sich aus mit Schusswunden?«

»Ja, und ob ich mich damit auskenne«, antwortete die Ärztin. »Ich war als Ärztin lange Zeit im Balkankrieg. Schusswunden habe ich genug gesehen. Wenn mich nicht alles täuscht, hat der Mann da hinten einen Durchschuss aus einer Neun-Millimeter-Waffe erlitten. Ist glatt durchgegangen. Eine Infektion kann ich nicht diagnostizieren. Nur ganz leichte Blutungen, die wahrscheinlich durch den Transport bedingt sind. Die Wunde ist relativ gut geheilt, aber wie es in ihm drinnen aussieht, kann ich nicht sagen. Er macht einen ziemlich fitten Eindruck. Daher verstehe ich nicht, warum er mit einem Ambulanzflugzeug ausgeflogen werden muss. Die Wunde wurde professionell versorgt, das zumindest steht fest.«

Flugkapitän Richard Kristoffs blätterte in den Unterlagen, die ihm von den Schweizer Kollegen des Rettungsfahrzeugs übergeben worden waren. Alles war vorschriftsmäßig und komplett. Die Schweizer Sicherheitsbehörden am Flughafen hatten dem Patienten eine Ausreisegenehmigung erteilt. Das ärztliche Dossier war von einem Krankenhaus in Zürich amtlich beglaubigt ins Englische übersetzt und von einem Professor mit arabischem Namen unterschrieben worden. Und dort war ganz eindeutig von einer Unfallverletzung die Rede. Zudem war der Patient ein Diplomat und unterstand somit nicht der Schweizer Jurisdiktion.

Die Sache war ihm suspekt. Aber er sah keine Möglichkeit, den in wenigen Minuten geplanten Start zu verzögern oder gar bei den Schweizer Behörden am Flughafen vorstellig zu werden, zumal ein Beamter des Schweizer Zolls und ein Polizist beim Umladen des Patienten anwesend waren. Nein, nach internationalem Recht konnte er als Pilot eines Ambulanzfluges in einem solchen dubiosen Fall nichts unternehmen. Später, nach der Rückkehr nach Wien, würde er einen Bericht schreiben. Mehr konnte er nicht tun, Wenige Minuten später startete der Learjet vom Flughafen Rheintal. Als der Schweizer Lotse über Funk um Bestätigung des Zielflughafens bat, hatte Flugkapitän Richard Kristoffs allerdings ein mulmiges Gefühl. Der Zielflughafen beunruhigte ihn ebensosehr wie sein undurchsichtiger Fluggast. Glücklicherweise würde er für die Strecke mit dem Learjet kaum mehr als vier Stunden brauchen.

Was soll’s, dachte er sich. Mach dir keine Gedanken über Dinge, die dich nichts angehen. Wenn alles nach Plan läuft, bist du spätestens morgen Vormittag wieder zu Hause. Seine Antwort über Funk an den Lotsen im Tower war entsprechend kurz: »Ambulanz 101 bestätigt Flug nach Marrakesch.«

*

Marie-Claire de Vries konnte sich nicht erinnern, jemals so viele japanische und chinesische Touristen auf dem Heldenplatz vor der Hofburg gesehen zu haben. Die Sonne schien angenehm warm, und auf den Wiesen saßen Hunderte junge Leute. Auffallend viele Grüppchen von Schwarzafrikanern lungerten herum. Seit die Wiener Stadtverwaltung und die Polizeibehörden sich dazu durchgerungen hatten, als Drogenumschlagplätze bekannte Plätze in der Stadt mit fest installierten Videoanlagen zu überwachen, hatte es eine wundersame Völkerwanderung in der Wiener Innenstadt gegeben. Die Dealer und Drogenabhängigen waren vom Karlsplatz und aus den umliegenden U-Bahn-Eingängen verscheucht worden und ins weitaus nettere Ambiente zwischen Parlament, Volkspark, Hofburg und Nationalbibliothek umgesiedelt. Nebeneffekt dieser gleichsam populistischen wie sinnlosen Aktion war, dass nunmehr auch harmlose afrikanische Studenten aus der nahen Universität zu Dealern abgestempelt wurden. An diesem ungewöhnlich milden, sonnigen Novembertag herrschte um die beiden grün patinierten Bronzereiterdenkmäler von Prinz Eugen und Erzherzog Karl herum ein geradezu babylonisches Sprachgewirr. Immer, wenn sie hier vorbeikam, erinnerte sich Marie-Claire an die nette Geschichte, die ihr Großvater ihr als Kind über dieses gigantische Reiterdenkmal von Erzherzog Karl erzählt hatte. Im Gegensatz zu den meisten Reiterstandbildern ruht dieses Monument nur auf den Hinterbeinen des Pferdes und benutzt nicht, wie die meisten Reiterstandbilder der Stadt, den Pferdeschweif als dritte Stütze. Die Angst, diese wagemutige Konstruktion könne in sich zusammenstürzen und damit seinen Ruf ruinieren, hatte den Künstler namens Anton Dominik von Feinkorn so gequält, dass er geisteskrank geworden und daran gestorben war. Lächelnd ging sie weiter. Die wehende Staatsfahne auf dem Leopoldinischen Trakt der Hofburg signalisierte, dass der Bundespräsident im Hause war. Die zwei Polizisten vor dem mächtigen Holztor des Bundeskanzleramts streckten ihre Gesichter der wärmenden Sonne entgegen. Die Droschkenkutscher auf der Straße zwischen den beiden Reiterdenkmälern schienen angesichts des außergewöhnlich milden Novemberwetters zufrieden. Sogar einige Terrassenplätze des Cafés im Innenhof der Hofburg waren besetzt.