»Was nichts anderes bedeutet, als dass du mal wieder Liebeskummer hast, richtig?«, unterbrach Marie-Claire sie. Sie ahnte, dass es ihrer Freundin nicht gut ging. Chrissie hatte ein unrühmliches Faible für Männer, die bereits vergeben waren.
»Ich bewundere deinen Scharfsinn«, erwiderte die Freundin. »Mein stressiger Job beim Kunsthistorischen Museum macht mich bei weitem nicht so krank wie dieser verfluchte Beziehungsstress. Aber ich hasse es nun mal, alleine zu sein! Das weißt du doch. Ist ja nichts Neues. Neu ist höchstens, dass ich derzeit einsam bin, obwohl ich gleich zwei Verehrer habe. Der eine hat noch weniger Zeit als ich. Er ist Broker an der Börse, was gleichbedeutend mit einen Achtzehn-Stunden-Job ist. Wenn er mal Zeit hat, schläft er. Leider nicht mit mir! Und der andere ist gerade mit seiner angeblich ach so gehassten Frau und seinen Kindern im Urlaub! Aber was soll’s, zumindest garantiert mir mein Aktien-Lover, dass ich nicht immer allein aufstehen muss! Aber jetzt erzähl mir lieber, wieso du mit mir in die Schatzkammer willst? Ich habe leider nicht sehr viel Zeit, doch für einen kurzen Rundgang und ’ne Tasse Kaffee danach wird es reichen. Komm, ich lancier dich an diesen Massen vorbei.«
Vor der Kasse der Schatzkammer im Tiefgeschoss herrschte ein unglaubliches Gedränge. Trotz Klimaanlage war es stickig-heiß. Marie-Claire war froh, dass ihre Freundin ihr es ermöglichte, ohne große Wartezeiten in dieses wundervolle Museum zu gelangen. Schon als Kind hatte sie hier die prunkvollen Schätze aus tausend Jahren europäischer Geschichte, die Insignien und Kleinode des Heiligen Römischen Reiches, die Insignien der österreichischen Erbhuldigung und den Kronschatz des Hauses Habsburg bestaunt. Während ihres Kunstgeschichtestudiums hatte sie viele Tage in dieser Schatzkammer verbracht. Irgendwie freute sie sich darauf, wieder einmal in die mystisch-dumpfe Atmosphäre dieses einzigartigen Museums mit seinem schummrigen Licht einzutauchen. Zumal sie sehr aufgeregt war. Was immer sie früher hier auch bestaunt und bewundert hatte, nie hatte sie einzelne Preziosen und Ausstellungsgegenstände in einem mit der Gegenwart verbundenen Kontext gesehen. Der heutige Besuch war anders. Sie würde vieles mit anderen Augen sehen. Dazu gehörten das Burgundische Erbe – und der Schatz des Ordens der Ritter vom Goldenen Vlies. Ihre Tasche musste sie an der Garderobe im Vorraum des Treppenaufgangs abgeben. Der Kontrast zwischen dem modern gehaltenen Foyer mit seinen schlichten grau-blau-weißen Steinböden und dem pompösen Kronleuchter fiel ihr erst auf, als sie auf der Treppe auf halber Höhe stehen blieb.
»Warte einen Moment, Christiane. Bevor wir da reingehen, will ich dir kurz sagen, was mich hierher treibt. Ich mache gerade die Basisrecherche zu einem Projekt, bei dem irgendwie die Ritter vom Goldenen Vlies und der Florentiner Diamant eine Rolle spielen. Ich kann noch nichts Konkretes sagen, im Moment ist es noch reine Schreibtischrecherche. Aber du kennst ja meinen Job. Wie immer ist natürlich alles streng vertraulich.«
Christiane Schachert blieb abrupt auf der Treppe stehen.
»Ups«, brachte sie ihr Erstaunen zum Ausdruck, »der Florentiner? Die legendenumrankte Zierde und der Fluch des Hauses Habsburg? Das ist ja eine nette Überraschung! Vor allem, weil du ihn in Verbindung mit den Rittern vom Goldenen Vlies nennst.«
Marie-Claire de Vries machte keinen Hehl daraus, dass sie alles, nur nicht diese Reaktion ihrer Freundin erwartet hatte.
»Du kennst dich mit dem Florentiner aus?«
»Was heißt auskennen? Als ich meine Dissertation schrieb, bin ich zufällig auf den Florentiner gestoßen. Mich hat dieser Edelstein sofort fasziniert. Ich weiß, dass er einer der legendärsten Diamanten des Abendlandes ist. Und ich weiß, dass Kaiser Franz Joseph ihn aus der österreichischen Staatskrone entnehmen und ihn in ein Diadem für seine Kaiserin Sisi umarbeiten ließ. Sonderlich viel Glück hat ihr das nicht gebracht. Sie hat ihn angeblich nur ein einziges Mal tragen können, bevor sie am 10. September 1898 in Genf mit einer Feile erstochen wurde. Man sagt diesem Florentiner nach, dass er all seinen Besitzern nur Unglück brachte. Ich denke, deswegen hat Kaiser Franz Joseph ihn später auch in eine Brosche umarbeiten und ihn hier in der Schatzkammer verschließen lassen. Und zwar in der Vitrine XIII – über die es ein Buch gibt.«
Marie-Claire de Vries lächelte zufrieden. Es war eine kluge Entscheidung gewesen, Christiane in die Recherchen einzuweihen.
»Ich habe von diesem Buch gehört. Was den Florentiner betrifft, kann ich nur sagen, dass sich schon jetzt, am Anfang meiner Recherchen, zu bestätigen scheint, dass dieser Stein eine unglaublich fesselnde Historie hat. Um ihn ranken sich sehr tragische Geschehnisse, und das in geballter Form! Schenkt man all den Mythen und Legenden um diesen Diamanten Glauben, dann ist er tatsächlich mit einem Fluch belegt. Er hat vielen Tod und Verderben gebracht. Die Habsburger scheinen davon extrem betroffen gewesen zu sein. In jenen Zeiten, in denen der Florentiner dem Haus Habsburg gehörte, hat es in der Kaiserfamilie auffallend viel tragische Unfälle gegeben: Der Bruder von Kaiser Franz Joseph ist in Mexiko umgebracht worden; Sisis erstes Kind ist im Alter von zwei Jahren in Ungarn gestorben; Sisis Sohn Rudolph hat sich und seine Geliebte in Mayerling umgebracht; Kronprinz Ferdinand wurde in Sarajewo erschossen! Und nur wenige Jahre später floh die Kaiserfamilie aus Wien in die Schweiz. Die österreichische Monarchie und damit das über Jahrhunderte so mächtige Haus Habsburg waren binnen weniger Jahre von der politischen Landkarte Europas verschwunden. Und damit ist nur ein Teil der blutigen Vergangenheit dieses Diamanten erzählt! Es ist wirklich irrsinnig aufregend, sich mit diesem Edelstein zu beschäftigen. Aber wieso hat dich eigentlich vorhin der Zusammenhang mit dem Ritterorden vom Goldenen Vlies so erstaunt?«
Eine Gruppe von etwa dreißig Chinesen drängte sich lärmend an ihnen vorbei das Treppenhaus hinauf. Ihre Freundin schien von den wenigen Stufen atemlos zu sein.
»Mist! Ist ein schnödes Leben, das ich führe. Zu viel Zigaretten und zu wenige Streicheleinheiten für meine Seele! Mir geht die Puste schon nach zehn Stufen aus. Vielleicht ist’s besser, dass mein Broker es vorzieht zu pennen, statt mich zu schweißtreibenden Matratzenspielen zu überreden.«
Marie-Claire musste laut lachen. Sie liebte diese unverblümte Direktheit und den schwarzen Humor ihrer Freundin, aber sie wusste auch, dass sich hinter diesen witzigen Bemerkungen ihrer Freundin bittere Wahrheiten verbargen. Christiane holte tief Luft und sprach dann weiter.
»Mich überrascht dieser Zusammenhang zwischen dem Diamanten und dem Orden vom Goldenen Vlies deswegen, weil das jetzt das zweite Mal innerhalb weniger Tage ist, dass ich mit diesem mysteriösen Orden vom Goldenen Vlies zu tun habe. Das ist schon seltsam! Aber das erkläre ich dir später …«
Zum Schutze der licht- und umweltempfindlichen Exponate der Schatzkammer, aber auch aus Sicherheitsgründen waren alle Fenster der Schatzkammer verdunkelt. Speziallampen beleuchteten die wenigen Vitrinen, Bilder und Kunstschätze nur spärlich. Marie-Claire brauchte einige Minuten, bis sie sich an das diffuse Licht im ersten Raum gewöhnt hatte. Touristen mit Audiokassetten scharten sich um die Glasvitrinen und lauschten, den Blick auf die Kunstschätze gerichtet, den Stimmen aus den Kassetten. Die gedämpfte Atmosphäre verlieh dem Raum ein gespenstisches Ambiente. Alle Besucher flüsterten nur und schienen bedacht darauf zu sein, sich lautlos durch den Saal zu bewegen.
Schon im zweiten Raum blieb Christiane stehen. Mit einem Kopfnicken deutete sie auf ein riesiges Gemälde an der gegenüberliegenden Stirnwand.
»Da, schau ihn dir an, diesen pausbäckigen Monarchen!«, flüsterte sie. »Da hast du einen jener Männer, die dem Orden der Ritter vom Goldenen Vlies als Souveräne vorstanden: Kaiser Karl VI. – im Vliesornat! Und davor in der Vitrine die Krone des späteren Kaisertums Österreich. Eine viel sagende Konstellation! Inbegriff einer Macht, die für uns heute kaum noch vorstellbar ist! Der Monarch und der Orden vom Goldenen Vlies.«