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Marie-Claire erschauerte innerlich. Gänsehaut lief ihr den Rücken hinunter. Für sie stellte sich bei dieser einzigartigen Achatschale nicht die Frage der wissenschaftlichen Beweisführung für die Existenz der Inschrift. Ihr fraglos sehr gläubiger Professor hatte ihr zum Ende ihres Studiums etwas gesagt, was sie nie vergessen hatte und was seither ihre Grundeinstellung zu Kunst und zu dieser mystischen Achatschale maßgeblich prägte: »Das Erkenntnisvermögen muss sich immer an dem orientieren, was es sehen will! Nur ein Auge, das dazu fähig ist, kann das Wunder sehen. Die Natur ist eine Selbstoffenbarung des Schöpfers. Daher kann nur ein von Gott begnadeter Künstler leblose Materie mit den Mächten der Seele einen.«

»Träumst du?«

Die Worte ihrer Freundin rissen sie aus ihren Gedanken.

»Tut mir Leid«, atmete Marie-Claire aus. Christiane schaute sie verwundert an.

»Irgendwie habe ich das Gefühl, diese ganze Sache um den Florentiner herum verwirrt dich sehr! Wie auch immer: Ich muss dich bitten, etwas schneller zu gehen. Ich will dir was zeigen, etwas sehr Seltsames. Es wird dich umhauen …«

5. Kapitel

In Raum fünfzehn der Schatzkammer herrschte eine wunderbare Ruhe. Seit Marie-Claire eine Tür passiert hatte, auf der ›Das burgundische Erbe‹ avisiert wurde, war sie noch aufgeregter. In diesen Räumen, das wusste sie aus ihren Unterlagen, befanden sich die prächtigsten Insignien des Ordre de la Toison d’Or – des Ordens der Ritter vom Goldenen Vlies. Hier, so hoffte sie, würde sie beginnen, die Zusammenhänge zwischen dem Ritterorden und dem Florentiner besser zu verstehen. Ihr Auftrag war, die Geschichte des Florentiners zu eruieren. Hier, dessen war sie sich sicher, würde sie Antworten finden auf die vielen Fragen, die sich ihr in Verbindung mit dem Florentiner und den beiden geraubten Sancys stellten.

Sprachlos und überwältigt von der unglaublichen Pracht in den Ausstellungsvitrinen glitt ihr Blick durch den Raum. Ein unbeschreiblich kunstvolles Ornat, die Festkleidung der Ritter vom Goldenen Vlies, fesselte vor allem ihre Aufmerksamkeit. Der mit weißer Seide gefütterte Mantel aus dunkelrotem Samt war das Schönste, was sie je an burgundischer Hofkleidung gesehen hatte. Er war mit unglaublich prunkvollen Gold- und Silberbordüren gesäumt. Darin waren die Embleme des Ordens eingearbeitet: Feuerstein, Feuereisen und Widderfell. Am Saum des einzigartigen Kunstwerkes stand in goldenen Lettern geschrieben: »JE LAY EMPRINS – Ich hab’s gewagt.« Verwirrt von der Atmosphäre dieses Raumes, von den edlen Gewändern, goldenen Ketten, funkelnden Edelsteinen, dem Heroldstab und der in ihren Ausmaßen und Schönheit im wahrsten Sinne des Wortes unbeschreiblichen Wappenkette für den Herold des Ordens suchten ihre Augen einen Ruhepunkt. Sie fühlte sie erdrückt von der Vielzahl der kostbaren Exponate. Dann sah sie, wonach sie suchte: vier Bilder, vier relativ kleine, unscheinbare Porträts. Ohne näher zu treten, wusste sie einen der Männer mit den sehr markanten Nasen sofort einzuordnen: Herzog Philipp der Gute von Burgund! Gebannt starrte sie auf das Bild.

Marie-Claire war plötzlich erschöpft. Ihre Wahrnehmungsfähigkeit ließ nach. Ihre Gedanken entschwanden und einten sich unter dem Eindruck all dieser sie in diesem Raum umgebenden Pracht zu einem märchenhaften, von imaginären Stimmen erfüllten Traum, in den sie eintauchte an jenem Tag, von dem sie in den alten Archiven gelesen hatte. Es handelte sich um jenen Tag vor sechs Jahrhunderten, den 10. Januar des Jahres 1430. Der Herold von Flandern trat nach Beendigung eines Ritterturniers vor und verkündete den anwesenden Edelleuten: »Mein Gebieter, der durchlauchtigste und großmächtigste Fürst und Herr, Herzog von Burgund, Graf von Flandern, Artois und Pfalzgraf von Namur, erlaubt sich, aus Anlass seiner Vermählung mit Prinzessin Isabella von Portugal einen Orden zu stiften, genannt das Goldene Vlies – eine ritterliche Bruderschaft und ein Freundschaftsbund von Edelleuten, geeint zu Ehren des Allmächtigen und der Verteidigung des christlichen Glaubens.«

Als wolle sie sich aus dem tranceähnlichem Zustand herauskatapultieren, schüttelte Marie-Claire den Kopf. Verstohlen schaute sie sich um. Ihre Freundin Christiane war nirgends zu sehen. Wieder wanderte ihr Blick zu den kleinen Gemälden, den Porträts der berühmten Burgunder. Sie stand nur einen Schritt entfernt, nunmehr Auge in Auge jenem Mann gegenüber, dem ihr größtes Interesse galt: Charles le Téméraire – in die Geschichte des Abendlandes eingegangen als Karl der Kühne, vierter Herzog von Burgund aus dem Hause der burgundischen Valois! Dieser Mann war vielleicht der Schlüssel zu all jenen Geheimnissen, die sie im Auftrag ihres Arbeitgebers, des Auktionshauses Christie’s, zu ergründen suchte. Er war der erste urkundlich nachgewiesene Eigentümer des in Deutschland geraubten Kleinen Sancy, des in Florenz entwendeten Großen Sancy – und des Florentiners. Dieser legendäre burgundische Herzog, so ging er ihr nun durch den Kopf, ist der erste Besitzer im Abendland all jener Diamanten gewesen, die du jetzt suchst. Und er war ein Ritter vom Goldenen Vlies.

»Kannst du mal aufhören, diese langnasigen Burgunder so anzustarren?«, rissen die Worte ihrer Freundin sie aus ihrer sprachlosen Begeisterung. Sie wandte sich um. Schweißperlen standen ihr auf der Stirn. Das viele Gold, all die unschätzbar wertvollen Edelsteine, die atemberaubend schönen Gewänder und die Porträts der burgundischen Herzöge hatten sie in eine andere Welt versetzt. Christiane stand vor einer Vitrine. In der für sie so typischen Trotzhaltung, einen Arm in die Hüfte gestemmt, den Kopf leicht nach hinten geworfen und mit funkelnden Augen, grinste sie Marie-Claire an.

»Schau mal!« Mit einer leichten Kopfbewegung wies sie auf die Vitrine. Marie-Claire de Vries wusste zunächst nicht, um was es ging. Langsam kam sie näher und starrte auf den Glaskasten. Ihre Augen weiteten sich. Ungläubig sah sie Christiane an. Ihre Freundin grinste triumphierend.

»Hier fehlt ja ein Exponat!«

Marie-Claire hauchte die Worte kaum hörbar vor sich hin. Sie starrte dorthin, wo laut Ausstellungskatalog ein Kreuz stehen sollte, ja müsste. Ein etwa vierzig Zentimeter großes, laut Bildern und Beschreibung mit Perlen, Saphiren und Rubinen besetztes goldenes Kreuz. Das Schwurkreuz der Ritter vom Goldenen Vlies. Jenes Kreuz, auf das die Ritter des Ordens seit der Ordensgründung ihren Eid ablegten. Aber das Kreuz war nicht da!

Stattdessen stand auf einem kleinen Schild mehrsprachig zu lesen, dieses Exponat sei wegen Restaurationsarbeiten für kurze Zeit leider nicht verfügbar.

»Schade«, murmelte sie zu ihrer Freundin gewandt. Sie war maßlos enttäuscht. »Hast du eine Ahnung, wann es aus der Werkstatt zurückkommt?«

Verwundert stellte Marie-Claire de Vries fest, wie ihre Freundin sie plötzlich seltsam ernst ansah. Dann grinste sie schelmisch und sprach auffallend leise.

»Das Schwurkreuz wird nicht restauriert! Es ist gestern Abend in einer ziemlich spektakulären Aktion von einem Sicherheitsdienst hier abgeholt worden. Ich habe das eigentlich nur mitbekommen, weil du mich gestern am Telefon auf die Ritter vom Goldenen Vlies angesprochen hast. Deshalb haben bei mir alle Glocken geklingelt, als sich mein Chef heute Morgen darüber echauffierte, dass eins der prächtigsten Kunstwerke der Wiener Schatzkammer auf so seltsame Art und Weise aus dem Museum geholt wurde. Ich habe dann natürlich ein wenig nachgefragt, was da abläuft und wo dieses Ding denn hingebracht wurde.«

Gebannt lauschte Marie-Claire ihrer Freundin. Plötzlich war es wieder da, dieses Gefühl, dieses Kribbeln im Bauch, das sie vor einigen Tagen zum ersten Mal verspürt hatte, als sie sich durch die Unterlagen über den Florentiner und über den Orden vom Goldenen Vlies gearbeitet hatte. Irgendetwas Mystisches, Geheimnisvolles und Außergewöhnliches hing an diesem Auftrag, den sie von ihrer Zentrale bekommen hatte.