»Und?«, fragte sie. »Wo ist das Kreuz jetzt? Wer ist so einflussreich, dass er dieses unvorstellbar wertvolle Kreuz hier aus der Wiener Schatzkammer rausholen darf?«
Christiane Schachert lächelte geheimnisvoll. Sie genoss es zu sehen, wie ihre Freundin Marie-Claire vor Neugierde fast platzte.
»Hm«, zögerte sie die Antwort absichtlich hinaus, »das kostet dich mindestens einen Wochenendaufenthalt in einem Fünf-Sterne-Hotel – inklusive Massagen, natürlich! Diese Sache hier ist heiß, sehr heiß …«
»Du bist gemein!«, zischte Marie-Claire de Vries und funkelte vermeintlich böse mit ihren blauen Augen. »Also gut, wenn die Information wirklich so toll ist, reiche ich bei Christie’s in London einen Antrag auf ein Informationshonorar ein, mit dem du dein Wellness-Hotel bezahlen kannst. Aber nur, wenn es eine Topinformation ist. Und jetzt sag schon!«
»Weißt du, was morgen für ein Tag ist?«, flüsterte Chrissie. Marie-Claire de Vries wollte gerade ungehalten auf diese Geheimnistuerei reagieren, als ihre Freundin weiter flüsterte und sich dabei geheimnisvoll im Raum umschaute. »Morgen ist Andreastag – der 30. November!«
Marie-Claire schaute verdutzt. Sie verstand nicht.
»Der Geburtstag des heiligen Apostels Andreas!«
Die Historikerin starrte ihre Freundin geradezu vorwurfsvoll an, als sei sie entsetzt, dass diese den Zusammenhang nicht sofort erkannte. Triumphierend meinte sie: »Ach, meine Liebe! Ihr Experten von den Auktionshäusern habt wirklich ein sehr eingeschränktes Allgemeinwissen! Wirklich sehr traurig! Der Apostel Andreas ist der Patron des Hauses Burgundi«
Marie-Claire war sprachlos.
»Also gut, du unwissende Christie’s-Expertin!«, spielte Christiane sich auf. »Morgen ist der Geburtstag des heiligen Andreas. Und jedes Jahr zum Geburtstag des heiligen Andreas treffen sich die Ritter vom Goldenen Vlies. Das war über sechs Jahrhunderte so – und es ist noch immer so! Zudem habe ich gehört, dass da am Vortag, also heute, schon irgendwelche Dinge ablaufen, aber darüber weiß ich nichts.«
»Wo?«, unterbrach Marie-Claire ihre Freundin schroff. Sie konnte kaum reden.
»Hier in Wien!«
»Warum?«
»Weil sie manchmal zu diesem Anlass ein neues Mitglied in ihre edlen Reihen aufnehmen – sie schlagen jemanden zum Ritter! Zum Ritter des Ordens vom Goldenen Vlies!«
»Wo?«, fragte Marie-Claire erneut.
»Weiß ich nicht. Noch nicht.«
»Warum wurde das Schwurkreuz aus der Schatzkammer geholt?«
Die beiden Frauen starrten sich gebannt an. Marie-Claire de Vries registrierte, wie einige der Besucher sie verwundert beobachteten. Einer der Museumswächter schaute irritiert herüber, sah dann jedoch den Ausweis an Christianes Blazer, der sie als Mitarbeiterin des Kunsthistorischen Museums auswies.
»Nun sag schon, was du sonst noch weißt«, flüsterte Marie-Claire ungeduldig. Sie war jetzt sehr aufgeregt. Sie spürte, dass dieser Zufall sie unerwartet schnell bei ihrer Recherche voranbringen würde.
Christiane zupfte sie leicht am Ärmel und zog sie in eine ruhige Ecke des Raum.
»Meine Liebe, sei mir nicht böse, aber ich habe das unrühmliche Gefühl, dass du dich für höchst seltsame Dinge interessierst. Mir ist zwar noch immer nicht ganz klar, was dieser Orden nun wirklich mit deiner Recherche zum Florentiner zu tun hat, aber eins kann ich dir sagen: Wenn du dich mit dem Ritterorden vom Goldenen Vlies beschäftigst, stößt du ins Zentrum der abendländischen Hocharistokratie – und das nicht nur hier in Österreich!«
»Was meinst du damit?«, fragte Marie-Claire.
»Ganz einfach. Der jetzige Souverän, also quasi der oberste Ritter dieses ebenso mysteriösen wie auch legendären Ritterordens, ist der Sohn von Erzherzog Otto von Österreich, somit also Enkel des letzten österreichischen Kaisers, Karl I.!«
»Du sprichst von Karl Habsburg?«
»Richtig!«
»Deswegen hast du mich vorhin bei dem Gemälde von Karl VI. so genervt? Damals war ein Karl der Souverän – und heute ist es wieder ein Karl? Und beide sind sie Habsburger …«
»Du hast es erraten!« Christiane Schachert atmete tief durch. »Meine Liebe, bitte versprich mir, dass du mich da völlig raushältst, ja? Was ich dir sage, sind mehr oder minder Dienstgeheimnisse. Ich riskiere riesigen Ärger, wenn ich solche Dinge erzähle. Die ganze Sache mit der Entfernung des Schwurkreuzes wird hier innerhalb des Kunsthistorischen Museums als Top Secret behandelt. Da kommen morgen sehr einflussreiche Leute zusammen. So viel Blaublütiges auf einen Schlag siehst du nur selten! Es kommen Könige, meine liebe Marie-Claire, wahrhaftige, amtierende Könige aus Europa – und sie alle sind Ritter vom Goldenen Vlies.«
Marie-Claire de Vries war sprachlos. Was ihre Freundin da erzählte, hörte sich an wie aus einem Mittelalter-Roman, aus einem Cinemascope-Historienschinken: geheimnisvolle Ritter, Hochadel, Könige, Schwurkreuze! Doch all das geschah in der Gegenwart, hier in Wien! Und sie war mitten drin. Was diese geheimnisvollen Geschehnisse letztendlich mit dem Florentiner-Diamanten zu tun hatte, wusste sie nicht. Noch nicht.
»Diese ganze Sache hört sich ziemlich verrückt an. Mittelalterlicher Aristokraten-Mummenschanz im 21. Jahrhundert! Fehlen eigentlich nur noch martialisch dreinschauende Männer in schwarzen, wallenden Umhängen, von diffusem Kerzenlicht erhellte Gewölbe und von Weihrauch getränkte Priester, die geheimnisvolle Liturgien vor sich hin murmeln, während die schwarzen Ritter ihren neuen Ordensbruder mit dem Schwurkreuz in der einen und einem Schwert in der anderen Hand in ihre Geheimloge aufnehmen! Ich kann es nicht glauben! Hast du eine Ahnung, wo sich diese ehrenwerte Gesellschaft der Ritter vom Goldenen Vlies trifft?«
»Nicht wirklich!«
»Was heißt das?«
»Nun ja, mein Chef hat irgendetwas von einer barocken Kirche in der Nähe des Stephansdoms gesagt. Tut mir Leid, Marie-Claire, mehr weiß ich nicht. Aber eigentlich gibt es in der Nähe des Doms keine barocke Kirche. Jedenfalls keine, die ich kenne. Aber eins musst du mir jetzt noch verraten: Was hat dieser Ritterorden heute noch mit dem Florentiner zu tun?«
»Wenn ich das wüsste, Chrissie, wäre ich wahrscheinlich einen großen Schritt weiter. Aber ich weiß es nicht! Wirklich nicht. Ich weiß nur, dass sich all das ein bisschen viel nach einer Geschichte aus Tausendundeiner Nacht anhört. Ich glaube nicht, dass sich mein Sicherheitschef, Francis Roundell, damit zufrieden gibt. Der will Fakten – Fakten über den Florentiner.«
6. Kapitel
Kaum hatte Flugkapitän Richard Kristoffs die Turbinen des Learjets bei der Ankunft in Wien abgeschaltet, sah er einen schwarzen BMW mit Blaulicht über das Rollfeld auf sein Ambulanzflugzeug zurasen. Sofort wusste er, dass ihn seine Intuition nicht getäuscht hatte. Er öffnete die Flugzeugtür am Rumpf.
Die Morgensonne blendete ihn. Der Wetterdienst hatte mitgeteilt, dass im Großraum Wien heute Fön mit viel Sonnenschein und Temperaturen bis zu zwanzig Grad erwartet würden.
Zwei Männer traten mit forschem Schritt auf ihn zu. Einer von ihnen hielt ihm einen Ausweis unter die Nase. Flüchtig blickte Richard Kristoffs darauf. Der Doppeladler und der Schriftzug »Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung« darauf überraschten ihn nicht. Er hatte irgendwie damit gerechnet.
»Flugkapitän Kristoffs?«
»Ja, richtig.«
»Wir sind vom österreichischen Innenministerium. Wir müssen Sie bitten, uns einige Frage zu beantworten. Ist Frau Dr. Blagus auch an Bord?«
»Ja, natürlich!«, antwortete er und drehte sich um. Die Notärztin, die mit ihm nach Marrakesch geflogen war, stand bereits hinter ihm am Ausstieg.
»Bitte steigen Sie beide zu uns in den Wagen.«
Fünfundvierzig Minuten später hielt der BMW vor dem ehemaligen Palais Modena, dem Haus Nummer 7 in der Herrengasse im ersten Bezirk von Wien. Die beiden Männer vom österreichischen Sicherheitsdienst hatten während der Fahrt vom Flughafen Schwechat in die Innenstadt kein Wort gesagt. Ulrike Blagus saß noch immer verunsichert im Fond des Wagens. Sie war sichtlich nervös. Flugkapitän Richard Kristoffs signalisierte, dass sie sich keine Sorgen machen solle. In einem Büro in der dritten Etage wurden sie von einem etwa fünfzigjährigen Mann mit lichtem Haar und einem schlecht sitzenden, dunkelblauen Anzug erwartet. Ein Namensschild an der Außentür wies den Zimmerinhaber als Dr. (Jus) René Poll aus, doch der Mann stellte sich nicht vor. Die Einrichtung des Büros war ausgesprochen kärglich. Außer dem Schreibtisch, drei Stühlen und einem Tresor befand sich nichts in dem Raum. Keinerlei persönliche Gegenstände zierten ihn. Nicht einmal ein Bild hing an den Wänden.