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Sie rannte so schnell sie konnte wieder nach unten. Zweimal stolperte sie in dem engen Treppenhaus, und mehrmals musste sie verschnaufen. Mit wehenden Haaren war sie schließlich an dem verdutzten Kassierer vorbeigerannt, raus auf den Stephansplatz, in die kleine Churhausgasse, dann wieder links in die Singerstraße. Dann starrte sie ungläubig auf die graue, unscheinbare Fassade eines mächtigen, dreigeschossigen Gebäudes mit schnörkellosen, klassizistischen Fensterbögen, das auf den ersten Blick eher wie ein altes Krankenhaus aussah. Sie sah ein mit der rot-weißen Staatsfahne dekoriertes Schild »Mozarthaus«, war völlig verwirrt, weil sie nicht wusste, warum und dass es in Wien ein Mozarthaus gab, suchte mit einem Blick nach oben den kleinen Kirchturm, den sie vom Stephansdom aus gesehen hatte. Doch von hier unten war nichts zu sehen. Im Eckteil des Hauses war eine Buchhandlung, in der ersten Etage ein Frisör untergebracht. Erst spät sah sie die Straße hinunter links die drei Kirchenfenster. Sie jubelte innerlich. Es waren barocke Kirchenfenster! Drei barocke Fenster mit jeweils fünf schwarzen, sehr ungewöhnlichen Kreuzen auf weißem Untergrund. Sie hatte diese Art Kreuze schon einmal gesehen, wusste aber nicht wo und wusste auch nicht, was sie bedeuteten – bis sie das unscheinbare, kaum lesbare bronzene Schild an der Fassade las: »Am 1. September des Jahres 1938 lösten die Nationalsozialisten die Ballei Österreich des Deutschen Ordens auf. Am 26. März 1947 wurde die Auflösung von der Republik Österreich als widerrechtlich erklärt.«

Marie-Claire de Vries lächelte unendlich glücklich und zufrieden vor sich hin: Du bist selten dämlich! Wieso bist du nicht gleich darauf gekommen? Dies hier ist die St.-Elisabeth-Kirche, die Kirche eines der berühmtesten Orden des Abendlandes, jenes der »Brüder vom Deutschen Haus St. Mariens« in Jerusalem, kurz Deutscher Orden genannt. Im gesamten Mittelmeerraum, im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nationen und im baltischen Raum errichtete dieser aus einer Hospitalbruderschaft entstandene Ritterorden seit dem 12. Jahrhundert ein päpstlich anerkanntes, unglaublich mächtiges Gefüge aus weltlichen und kirchlichen »dienenden Brüdern«, dessen Zentrum eine der größten Festungsanlagen der Welt wurde: Marienburg – dessen Fahne jenes Kreuz trug, das sie nun in den barocken Kirchenfenstern über sich sah. Plötzlich waren ihr die Zusammenhänge klar: Der Deutsche Orden, einst als Deutscher Ritterorden bezeichnet, war berühmt-berüchtigt geworden als Unterdrückungsinstrument der katholischen Kirche. Und als Instrument des abendländischen Kampfes gegen die Heiden – die Moslems. In diesem Orden einten sich einst mächtige Kräfte, die zu den Kreuzzügen aufbrachen. Zur Befreiung Jerusalems und zur Verteidigung des christlichen Glaubens. Und das, so wusste sie mittlerweile, galt auch als eines der wichtigsten Ziele des Vlies-Ordens. Der Orden der Ritter vom Goldenen Vlies war kein Verdienstorden. Er war ein politischer Orden – und war ebenfalls eng verknüpft mit der katholischen Kirche.

Marie-Claire ging zurück zu dem unscheinbaren Eingang, in dem ein junger Mann Eintrittskarten für Konzerte im Mozarthaus verkaufte. Sie sah das alte, hölzerne Portal rechts im Durchgang, sah die zwei in die Holztür eingearbeiteten Kreuze des Deutschen Ordens und wusste, dass dies der Ort war, den sie suchte. Dann sah sie das Schild an der Tür: »Diese Kirche bleibt heute geschlossen.«

Beinahe hätte sie geweint vor Enttäuschung! Nachdem sie einen flüchtigen Blick in den von der Straße her kaum sichtbaren Innenhof des Gebäudetraktes geworden hatte, beschloss sie, erst einmal ihre Gedanken zu ordnen. Nun saß sie mit dem Rücken an die Wand der Pfarre St. Stephan gelehnt und wusste nicht, was sie tun sollte. Der Wind zerzauste ihr langes, blondes Haar. Sie war nervös, müde und abgespannt. Sie spürte, wie sich die ersten Anzeichen von Migränekopfschmerzen über die Schläfen zur Stirn hin schlichen. Ihre Füße taten weh. Ihre Gedanken überschlugen sich. Deutscher Orden, Ritter vom Goldenen Vlies: Wie hing all das wirklich zusammen? War sie nicht schon längst viel zu weit von ihrem eigentlichen Auftrag – dem Florentiner – entfernt?

Plötzlich war sie hungrig. Mühsam erhob sie sich und ging in Richtung Café Haas hinter dem Dom. Sie mochte das Haas & Haas – das geschmackvoll-modern eingerichtete Restaurant unten im Kellergewölbe ebenso wie den idyllischen Gartenpavillon. Was viele Wiener ins »Haas« trieb, war die Tatsache, dass sich höchst selten Touristen in dieses versteckt und unscheinbar in eine Fassade hinter dem Stephansdom eingebettete Café verirrten.

Heute jedoch war das Café völlig überfüllt. Sie entschied sich, den Hinterhof aufzusuchen, wo im Sommer Tische und Stühle standen. Die fahle Mittagssonne erwärmte den lauschigen Patio ein wenig. Da der Herbst über Wochen herrlich sonnig gewesen war, standen die Bottiche mit den Oleanderbüschen noch immer draußen. Sie rückte einen Korbstuhl, der direkt an dem zugerankten Zaun stand, in die Sonne, setzte sich und schloss die Augen. Ein Motorengeräusch weckte kurz darauf ihre Aufmerksamkeit. Ihr Blick fiel durch die welken Blätter hindurch auf den unmittelbar neben dem Café liegenden Hinterhof. Unglaublich! Nur durch einen Maschendrahtzaum mit gold-gelb verfärbtem wildem Wein getrennt lag dort ein Hof mit einem mächtigen Gebäudetrakt, der ohne Frage zu der Deutschordenskirche gehören musste. Ja, dies war ohne Zweifel der rückwärtige Teil der alten Ordenskommende. Sie hatte hier schon sehr oft gesessen – und mit Sicherheit schon oft auf diesen Hinterhof geschaut. Ja, all das hatte sie schon sehr oft gesehen, aber was sich hinter den eher ärmlich ausschauenden Fassaden verbarg, hatte sie erst vor wenigen Minuten herausgefunden!

Nun kam das Fahrzeug, das sie eben gehört hatte, über den Hinterhof auf den Parkplatz gerollt. Neugierig lugte sie durch den wilden Wein hindurch. Es war ein dunkelblauer Jaguar. Die klassische Limousine fuhr fast lautlos auf den Zaun zu, hinter dem sie saß. Ihr Blick heftete sich auf die silberne Jaguarstatue auf der Motorhaube des Fahrzeugs, das jetzt nur noch knapp einen halben Meter von ihrem verborgenen Sitzplatz entfernt stehen blieb. Sie konnte den Fahrer nicht genau sehen, wollte aber wissen, wem diese prächtige Luxuslimousine gehörte. Vorsichtig stand sie auf, bückte sich, stierte durch den wilden Wein hindurch auf die Fahrertür, die sich nun öffnete. Ein Mann stieg aus. Sie erstarrte! Gänsehaut schoss ihr über den Rücken.

Das ist nicht wahr! Nein, das konnte nicht wahr sein. Das war unmöglich! Mit weit aufgerissenen Augen versuchte sie aus ihrem Versteck hinter dem Zaun heraus das Gesicht des Mannes genauer auszumachen. Doch, er war es! Kein Zweifel! Dieses markante Profil, das etwas längere, seidig-glänzende Haar, das ihm über die Stirn fiel – und diese Augen! Diese Augen, die selbst auf einem Foto unglaublich ausdrucksstark waren und grenzenloses Selbstbewusstsein ausdrückten. Er war groß, gut aussehend, mit breiten Schultern. Er trug einen perfekt sitzenden Anzug. Der da, und sie zitterte dabei am ganzen Körper, war Gregor Friedrich Albert von Freysing!

Der Jaguarfahrer ging zielstrebig auf einen Torbogen auf der rechten Seite des Hofes zu und verschwand darin. Das Echo seiner Schuhe hallte noch lange durch den Innenhof. Hastig sprang Marie-Claire de Vries hinter dem Zaun hervor und rannte ihm hinterher. In dem Torbogen presste sie sich an die Wand und schielte um die Ecke herum in den sich nun vor ihr öffnenden Innenhof. An der ihr gegenüberliegenden Gebäudeseite thronte ein wunderschöner Erkerwintergarten über ihr. Sie konnte Bücher erkennen. Freysing stand links im Hof vor einer grünen Holztür mit Sprossenfenstern, kramte einen Schlüssel aus seinem Aktenkoffer und verschwand in dem Gebäude.